Mein bis in den Tod
der größte Teil der Nase, der Lippen und des Kinns waren nicht mehr da, und das von Narben übersäte Gesicht sah aus, als wäre es zusammengeflickt worden. Sie hockte auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch und blickte ständig zu ihrer Mutter, die einen halben Meter entfernt auf dem Sofa saß.
Selbst Ross, den die zahllosen grausigen Anblicke während seiner beruflichen Laufbahn abgehärtet hatten, war berührt und bemühte sich, mit seiner Miene Ruhe auszudrücken.
Sein Büro sollte die Patienten beruhigen. Es war im gleichen maskulinen Stil eingerichtet wie sein Arbeitszimmer zu Hause. Dunkles Holz, Lederpolster, Ölgemälde mit Seeschlachtszenen, Bücherregale voll mit medizinischer Fachliteratur, eine weiße Marmorbüste von Hippokrates auf einem weißen dorischen Sockel.
»Und wann sind Sie geboren, Leah?«
Sie blickte erneut zur Mutter, die einen großen braunen Briefumschlag in Händen hielt und ängstlich und nervös für sie antwortete: »1983.«
Er notierte sich das mit seinem Mont Blanc. »Können Sie mir sagen, wie Sie auf mich aufmerksam wurden?«
Wieder überließ Leah ihrer Mutter die Antwort. »Unser Hausarzt hat uns eine Liste mit Namen gegeben. Mein Mann hat sich Ihre Homepage angesehen und hielt Sie am geeignetsten für das, was Leah braucht.« Sie rang die Hände und zeigte ein verzweifeltes Um-Himmels-willen-so-helfen-Sie-uns-doch-Lächeln.
Er warf einen raschen Blick auf den Terminkalender auf dem Schreibtisch. Zehn nach drei. Verstohlen klappte er ihn auf. Sie war die letzte seiner Konsiliarpatienten am Nachmittag, um vier musste er wieder im OP sein. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, weil seine Gedanken um Faith kreisten.
Wo zum Teufel war sie heute?
In London
.
Nein, du bist nicht in London. Du lügst mich an, Miststück. Wo bist du wirklich? Am besten, du sagst es mir gleich, ich komme dir sowieso auf die Schliche, das weißt du doch, oder?
Er studierte seine Unterlagen. »Ja, gut, das Internet.« Er schrieb das auf, dann hob er den Kopf. Eine der Fähigkeiten, die er im Laufe der Jahre erworben hatte, war, jeden Patienten, egal, wie übel entstellt er war, anzusehen, ohne dass sich in seiner Miene eine Spur von Gefühl zeigte. Er verschränkte die Arme und beugte sich über den Schreibtisch zu der jungen Frau. »Also, Leah, nun sagen Sie mir einmal, was ich für Sie tun kann.«
Die Mutter nickte – sie durfte antworten. »Ich möchte so aussehen wie früher.«
»Leah hat gemodelt«, sagte ihre Mutter, »bei einer Top-Agentur. Sie hat für die Zeitschrift
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in der Juni-Ausgabe eine Modestrecke gemacht. Alle sagen, dass sie genug Talent hatte – ich meine hat –, um nach ganz oben zu kommen.«
Einen Augenblick lang trafen sich die Blicke aller Anwesenden.
Sie stand auf und gab ihm den Umschlag, den sie fest in ihren Händen hielt. »Die – die sind von ihr.«
Ross öffnete den Umschlag und schüttelte mehrere professionelle Fotos einer auffallend hübschen jungen Frau mit dunkelbraunem Haar heraus. Trotz all seiner Erfahrung konnte er es kaum fassen, dass es sich um dasselbe Mädchen handelte, und ihn überkam die blanke Wut auf denjenigen aus dem Krankenhaus, der an ihr nach dem Unfall diese Pfuscherei ausgeführt hatte. Man hatte den Eindruck, als wäre sie nicht von einem Arzt, sondern von einem Schweißerlehrling operiert worden.
Er legte die Fotos auf den Schreibtisch und betrachtete die Mutter, dann die junge Frau.
So sanft wie möglich sagte er: »Da lässt sich etwas machen, Leah, aber es wird lange dauern und mehrere Operationen erfordern. Was das Ergebnis angeht, kann ich allerdings nichts versprechen. Es ist sehr wichtig, dass Sie das verstehen.«
»Welche Verbesserungen können Sie erreichen, Doktor?«, fragte die Mutter.
Nicht genug
, dachte er. Vielleicht konnte er der Tochter eine Art Leben zurückgeben, aber nicht ihre Karriere als Model.
Er sagte ihr die Wahrheit, während er dachte: Faith, du Schlampe, du weißt ja gar nicht, wie viel Glück du hast. Ich habe dich verschönert.
Ich könnte dich mühelos so aussehen lassen wie dieses Mädchen hier
.
Als sie mit ihrer Mutter hinausging, schluchzte sie. Die Erkenntnis, dass sie im Laufe der nächsten Jahre vermutlich zehn Operationen über sich ergehen lassen musste, war für ein junges Mädchen ihres Alters kaum zu verkraften. Aber es war wichtig, dass sie und ihre Mutter wussten, was ihnen bevorstand: Man musste einen großen Durchhaltewillen besitzen, um das durchzustehen, was Leah
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