Mein bis in den Tod
hoch und lächelte sie an. »Manchmal denke ich, das Leben ist zu kurz, um erwachsen zu werden. Ein Teil von mir will Kind bleiben. Ich habe den Eindruck, dass Sie im Herzen noch ein Kind sind.«
»Ich wünschte es mir.«
»Würden Sie sich das auch wünschen, wenn Sie einen Wunsch erfüllt bekämen? Dass Sie wieder Kind sein könnten?«
»Nein. Älter, Anfang zwanzig vielleicht.« Ihre Erinnerungen sagten ihr, dass sie damals, in jenen frühen aufregenden Zeiten, als man ihr den Hof machte – was für ein merkwürdiger Ausdruck –, glücklich war. Sie war glücklich gewesen, verliebt, und mit dem Leben, das noch vor ihr lag, zufrieden.
Das Telefon klingelte. Oliver warf einen Blick auf seinen Schreibtisch. Plötzlich bemerkte Faith, dass das Klingeln aus ihrer Handtasche kam. Peinlich berührt, zog sie ihr Mobiltelefon heraus und blickte auf die Anzeige. Ross, der aus der Klinik anrief. Sie drückte den Ende-Knopf. Dann ließ sie das Handy zurück in die Tasche gleiten und wunderte sich selbst über diesen kleinen Akt des Trotzes. Ross würde ihr später die Hölle heiß machen, aber im Moment war ihr das egal.
Völlig egal.
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22
H ierher gehe ich meistens in der Mittagspause«, sagte Oliver.
In der Ferne erstreckten sich die Dächer von London, verschwammen zu einem schmuddeligen Fleck unter einem drohenden kohlegrauen Himmel. Der Wind zerrte an Faiths Haaren, fegte durch ihren Mantel, ein wüster, eisiger Wind, den sie aber kaum bemerkte, als sie neben Oliver auf dem Weg zwischen den Grabsteinen entlangging.
Oliver – im langen schwarzen Mantel, mit fliegenden Haaren, die kleine Tragetüte mit ihren Sandwiches und zwei Flaschen Mineralwasser in der Hand – schlenderte in einem gemütlichen Tempo. Sie sah auf die Namen der Grabsteine.
Mary Elizabeth Mainwaring, meine geliebte Frau. 1889–1965. Harold Thomas Sugden, 1902–1974. William Percifal Leadbetter, 1893–1951. Ruhe in Frieden im Königreich des Herrn.
Dann blickte sie zu ihm auf. »Fasziniert der Tod Sie?«
Er blieb stehen und deutete auf den Grabstein von William Percifal Leadbetter. »Wissen Sie, was mich so fasziniert? Der Bindestrich. Dieses kleine Satzzeichen zwischen den Lebensdaten. Ich schaue auf jemandes Grab und denke: Dieser Bindestrich steht für das ganze Leben eines Menschen. Sie und ich leben im Moment sozusagen zwischen den Bindestrichen. Es ist nicht wichtig, wann jemand geboren wurde oder wann er starb, was zählt, ist, was wir dazwischen mit unserem Leben angefangen haben. Und alles, was wir hier auf diesem Friedhof sehen, sind tausende anonymer Bindestriche. Das macht mich traurig.«
»Finden Sie, dass die Leute ihre ganze Biografie auf ihren Grabstein gravieren lassen sollten? Oder eine Art Video-Installation anbringen, die all ihre Erfolge zeigt, wenn man am Grabstein vorbeikommt?«
»Da muss es etwas Besseres geben.«
Er ging weiter.
»Denken Sie über Ihren Tod nach?«
»Ich versuche, über mein Leben nachzudenken, darüber, was ich mit meinem kleinen ›Bindestrich‹ tun kann, um etwas aus meinem Leben zu machen. Ich –« Er unterbrach sich, und sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Dann sagte er: »Wenn wir jemanden verlieren, der uns nahe stand, erkennen wir, wie hilflos wir sind. Wir können Menschen ins All schicken, können die Genome der Menschen entziffern, können den Boden der Weltmeere mit kleinen Sonarapparaten vermessen, und schon bald werden wir sicher auch den Regen dazu bringen, dorthin zu fallen, wo wir es wollen. Und doch werden wir noch immer von sehr vielen Krankheiten besiegt.« Er tippte sich leicht an den Kopf. »Wir sind imstande, jede Krankheit zu besiegen, wenn wir nur einen Weg finden, die Kraft zu nutzen, die in unseren Köpfen steckt.«
»Das glaube ich auch. Stimmt es, dass wir nur einen kleinen Teil unserer Hirnzellen nutzen, so um die zwanzig Prozent?«
»Ungefähr zwanzig Prozent von dem, was wir kennen. Was wir nicht wissen, ist, womit wir sonst noch verbunden sind, aus dem wir Kraft beziehen könnten.«
»Eine andere Dimension?«
Sie näherten sich einer Bank. »Hier kann man gut sitzen. Ihnen ist doch nicht zu kalt?«
Faith zitterte vor Kälte, aber wegen der kalten Luft, vielleicht auch wegen Olivers Nähe, war ihre Übelkeit wie weggeblasen. »Nein, es geht mir gut.«
Er griff in die Tüte, zog ein Thunfisch-Sandwich heraus und reichte es ihr. »Vermutlich sollte ich Sie in ein schickes Restaurant einladen. Aber –«
»Nein, ich bin froh,
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