Mein bis in den Tod
mir leid, der Zug hatte Verspätung!« Sie spürte seine ausgestreckten Arme, und sie küssten sich auf die Wange, erst links, dann rechts. Als er sie wieder auf Armeslänge von sich wegschob, wechselte sein Lächeln zu einem Stirnrunzeln.
»Ihr Gesicht – was ist damit passiert?«
Sie hatte das schon geprobt, aber ihre Antwort klang ungeschickt. »Ach – ich bin nur … über eines der Spielzeugautos meines Sohnes gestolpert, habe mir den Kopf an der Ecke eines Schranks aufgeschlagen. Es ist nichts.«
»Tut es weh?«
»Nein – gestern Abend hat es höllisch wehgetan, aber nach der Narkose –« Sie hielt inne. Sie hatte bereits mehr gesagt, als sie wollte.
»Narkose? Sind Sie genäht worden?«
»Nur ein paar Stiche.«
»Wo? Im Krankenhaus?«
»Nein, äh, Ross – war zufällig in der Nähe.« Das klang wenig überzeugend. »Konnte wirklich von niemand Besserem gemacht werden!«
»Ja«, stimmte er zu – mit einem Lachen, das ihm halb im Halse stecken blieb.
Eine Verkehrspolizistin kam auf sie zu. Oliver schob Faith in den Wagen und startete den Motor. Es war gemütlich warm in dem Jeep, und als sie sich in den Verkehr einfädelten, fühlte sie sich behaglich, geschützt.
Frei.
Er wandte sich zu ihr um. »Essen Sie gern thailändisch?«
Sie zögerte. Thailand, wo sie kürzlich mit Ross gewesen war. Und woher sie den Bazillus mitgebracht hatte. Kein gutes Omen, aber sie wollte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. »Ja, sehr gern.«
»Ich kenne da ein hervorragendes kleines Restaurant. Eines von Londons bestgehüteten Geheimnissen.«
»Ich schweige wie ein Grab.«
Die Scheibenwischer wischten ein paar Regentropfen von der Windschutzscheibe. Oliver hatte Klassik-Radio eingeschaltet: Elgar, ein mitreißendes, erbauliches Stück, die Art Musik, die Männer im Herzen trugen, wenn sie in die Schlacht zogen, Musik, bei der man sich unbesiegbar fühlen konnte. Und sie war guter Laune, zu allem aufgelegt, unbesiegbar. Weil sie in dem Jeep sehr hoch saß, könnte ein Bekannter sie leicht entdecken, und das sollte sie eigentlich beunruhigen, tat es aber nicht. Sie fühlte sich besser, hochgestimmter, als irgendwelche Glückspillen das je bewirken konnten.
Oliver bog rechts ab, am Busbahnhof vorbei, in Richtung Belgravia. Zwischen ihnen herrschte ein angenehmes Schweigen. Durch die Windschutzscheibe, eingehüllt in den Kokon des Wagens und der Musik, beobachtete sie den Verkehr.
Das hier fühlte sich gut an. So verdammt gut.
Auf einmal suchte sie wieder der dunkle Schatten von Ross’ Angriffen auf Alec und sie vom Donnerstagabend heim. In den letzten vier Nächten hatte sie Albträume gehabt. So sehr sie im Geist auch versuchte, Ross’ Verhalten herunterzuspielen – es wurde schlimmer, keine Frage. Geschlagen hatte er Alec oder sie noch nie.
Tags darauf war er voll Reue gewesen. Am Samstagnachmittag, nach seiner Golfpartie, hatte er ihr einen riesigen Blumenstrauß und Alec ein Elektroauto mitgebracht, in dem man richtig sitzen und fahren konnte. Am Abend war er dann mit ihr essen gegangen. Am Sonntag hatte er ihr das Frühstück ans Bett gebracht, etwas, das er während der ganzen Ehe vielleicht zweimal getan hatte. Dann hatte er mit Alec einen Fahrradausflug unternommen. Nach dem Mittagessen waren sie zu dritt zu einem langen Spaziergang aufgebrochen, etwas, das sie früher gern getan hatten, aber schon lange nicht mehr taten.
Doch nichts davon hatte ihr etwas bedeutet. Sie hatte ihr Bestes gegeben, um das Wochenende ohne eine weitere Auseinandersetzung durchzustehen, aber sie hatte Angst, dass Ross den Rubikon der Gewalt überschritten hatte und Alec oder sie jederzeit erneut schlagen könnte.
»Ihr Mann hat Sie geschlagen, stimmt’s?«
Eine verblüffende Frage. Hatte Oliver ihre Gedanken gelesen?
Sie dachte genau über die Frage nach, unsicher, ob sie ihn einweihen sollte, tief gedemütigt. Langsam drehte sie sich zu ihm um und nickte.
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D er Zeitungsladen war voller Kinder und Jugendlicher, die auf dem Nachhauseweg von der Schule Süßigkeiten und Zigaretten kauften. Niemand nahm Notiz von dem großen Jungen, der neben den Tageszeitungen stand und in der neuesten Ausgabe des
Streatham Advertiser
blätterte, die heute herausgekommen war.
Auf Seite fünf fand Ross, wonach er suchte. Die Meldung war nicht zu übersehen. Er hatte mit ein paar Zeilen gerechnet, aber die Nachricht nahm fast eine halbe Seite ein – mit einer Überschrift: MANN STIRBT IN FEUER NACH
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