Mein Boss, die Memme
meiner Kollegen bis zu meinem eigenen reichen. Wir begegnen uns im Raucherzimmer, am Kaffeeautomat in der Cafeteria oder in den Räumen der Nachbarabteilung.
Doch wenn wir beide miteinander sprechen, dann steht vor mir nicht nur mein Boss.
Leicht verfallen wir dem Trugschluss, seine Art zu loben und zu kritisieren, das Maà an Aufmerksamkeit, dass er uns Mitarbeitern schenkt, seine Ansichten und womöglich sein Hang zur Kontrolle seien allein Ausdruck seiner Persönlichkeit. Sicher, das alles gehört zu ihm. Doch in den Handlungen unseres Vorgesetzten schwingt immer mehr mit als nur seine eigenen Motive.
Dieses Mehr bezeichne ich der Einfachheit halber als einen Geist.
Es ist ein Geist, der morgens mit den Trägern edler Anzüge im Fahrstuhl schnurstracks bis in die Chefetage des Firmengebäudes fährt und zugleich mit dem Wirtschaftsteil der Tageszeitungen ins Chefsekretariat getragen wird. Ein Geist, der von den Büros der Analysten und Investoren in Frank furt, New York und London herüberweht. Der per E-Mail oder der Bitte um schnellen Rückruf Aufmerksamkeit einfordert und ein Mitglied der Geschäftsführung freundlich zu einem Hintergrundgespräch ins Kaminzimmer lädt.
Ein Geist, der jeden Tag in dem Konferenzraum im 48. Stock zwischen dem schweren Mahagonitisch und den Sesseln aus schwarzem Leder hin und her springt, sich dabei in immer neue Worte kleidet und doch immer dasselbe will. Solange, bis er sich in etwas Greifbarem manifestiert â beispielsweise in der Unterschrift des Vorstandsvorsitzenden unter einem Beschluss.
Aus der obersten Etage mit dem schönen Ausblick senkt sich der Beschluss gewordene Geist dann herab. Stockwerk um Stockwerk. Er hält Einzug in die Finanzabteilung und in die Rechtsabteilung, wenn er dort nicht sowieso schon immer zu Hause war.
Er landet bei Top-Managern, die Bereiche mit ein paar tausend Mitarbeitern unter sich haben und bereits während ihres MBA -Studiums eine ordentliche Portion davon eingeatmet haben. Etabliert und institutionalisiert inhalieren sie ihn nun regelmäÃig in einer anderen Ausprägung: als fette Boni.
Von diesen Häuptlingen aus sickert der Geist zügig weiter abwärts. Bis unser Boss, zum Beispiel ein Abteilungsleiter, in einem Meeting davon erfasst wird. Vor ihm sein direkter Vorgesetzter, neben ihm seine Kollegen, die Leiter der anderen Abteilungen.
Von dem, was zuvor in den oberen Stockwerken über ihm passiert ist, hat unser Boss schon gehört. Bisher war es nur ein Gerücht. Jetzt kommt es offiziell bei ihm an. Jetzt soll also mal wieder eine neue Umstrukturierung beginnen. Oder vielleicht ein neues Effizienz-Programm. Oder die Ziele für das nächste Quartal werden nach oben geschraubt.
Auf dem Weg nach unten hat der Geist seine Gestalt verändert. Vielleicht wurde aus der Unterschrift des Vorstands eine Videobotschaft an die Niederlassungen überall auf der Welt, dazu noch ein Seminar für das mittlere Management und eine Pressemitteilung für die Ãffentlichkeit.
Der Boss unseres Bosses trägt diesen Geist weiter, vermittelt auf seine Weise das neue Anliegen der Unternehmensführung an unseren direkten Vorgesetzten. Der schaut zu seinem Vorgesetzten, mit dem ihn mehr als nur ein Arbeitsverhältnis verbindet. Dann zu seinen Kollegen, mit denen er mal gut, mal weniger gut kann.
Dies ist seine Welt, seine Chef-Welt, von der wir nur manchmal etwas mitbekommen. In der er sich durchsetzen muss. In der er sich für seine und hoffentlich auch für unsere Interessen einsetzt.
Dann ist das Meeting beendet, und unser Chef erscheint in unserem Büro. Was wird er uns mitteilen?
Wie er nun so vor uns steht, ist unser Boss nicht einfach nur unser Boss. Er ist mehr als das: Er ist die Firma. Im Guten wie im Schlechten.
Durchweht diese Firma ein guter Geist, dann steht unser Boss für all die Freiheiten, die wir in unserem Job genieÃen. Für das Vertrauen, das man uns schenkt.
Was aber, wenn ein dunklerer Geist die Flure, Büros und Besprechungszimmer durchzieht? Wenn Misstrauen, KonÂtrollwahn und überambitionierte Umsatzziele das womöglich einzige sind, das von oben nach unten durchsickert?
Dann können wir nur hoffen, dass unser Boss es gut mit uns meint und in der Lage ist, diesem Geist zumindest teilweise standzuhalten. Im schlimmsten Fall aber begreift er diesen Geist als seine Chance, uns, seine Mitarbeiter, gnadenlos zu
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