Mein digitales Ich
10 000 anonymisierte Datensätze zur Verfügung, die sich mit seinem aktuellen Status beinahe perfekt decken. Mithilfe dieser Informationen konnte der Health-Monitor eine Liste von Verhaltensempfehlungen erstellen, die mit einer 75-prozentigen Wahrscheinlichkeit ein gesteigertes Wohlbefinden und einen verbesserten Gesundheitszustand ermöglichen. Johns Arzt muss die Liste aber noch autorisieren, bevor sie den Bildschirm seines Mobiltelefons erreicht. Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass in jedem Fall ein befugter und im System zertifizierter Arzt die Empfehlung eines Computerprogramms hinsichtlich des Gesundheitszustandes eines Menschen kontrollieren und freigeben muss.
11:00 Uhr. Nach dem Frühstück macht John einen Spaziergang. Auch diese Form der körperlichen Aktivität wird technisch erfasst, und zwar gleich mehrmals. Vier fest eingebaute Sensoren in seinen Schuhen messen zum Beispiel seine Schrittlänge und Schrittfrequenz, außerdem erkennt jeder Schuh, mit wie viel Druck der Fuß den Boden berührt. Die in dem Smartphone integrierten Lage-, Bewegungs- und Beschleunigungssensoren ermitteln ebenfalls Mobilitätswerte und übertragen sie in regelmäßigen Abständen ins Netz. Sein aktuelles Gewicht samt Körperfettanteil sind dort bereits gespeichert, seit er nach dem Aufstehen auf die Waage im Badezimmer stieg. Der Körperfettanteil liegt mit aktuell 22,6 Prozent etwas im erhöhten Bereich, gut wäre in seiner Altergruppe ein Wert von 20 Prozent. Kein zwingender Grund, eine Diät zu beginnen, aber ein paar Kilo weniger könnten es schon sein, denkt sich John, als er seine aktuellen Daten betrachtet.
»Du bist heute bereits 3000 Schritte gegangen. Weiter so!«, erscheint plötzlich in blauer Schrift im unteren Sichtfeld vor seinem Auge. Die Brille, die John trägt, besitzt einen winzigen eingebauten Bildschirm, der Texte, Bilder und Videos einblenden kann – sie erkennt jede seiner Augenbewegungen. John richtet den Blick auf die eingeblendete Zahl im unteren Sichtfeld, das »Smart Glass« schließt daraus, dass er mehr Informationen sehen will. Er hat bereits 30 Prozent der täglich empfohlenen Schrittmenge absolviert. Für jeden zurückgelegten Kilometer werden ihm Aktivitätspunkte gutgeschrieben, die Brille blendet seine Tages-, Wochen- und Monatswerte ein. Heute hat er schon vier Aktivitätspunkte gesammelt.
Die sogenannten Acties sind längst eine gesellschaftlichrelevante Währung geworden. Fast jeder veröffentlicht sie in sozialen Netzwerken. Je mehr man davon sammelt, desto besser. Die körperliche Fitness eines jeden Einzelnen ist zu einem öffentlich stattfindenden Spiel geworden. Menschen, die in den Top 10 der Activity-Highscore-Listen der sozialen Netzwerke auftauchen, sind weltbekannt wie Popstars. John hält eigentlich nicht viel davon, auch wenn er merkt, wie sehr ihn die »Acties« motivieren, sich mehr zu bewegen. Seit ein paar Monaten gibt es einen regelrechten Boom dieser Ranglisten. Neben den Aktivitätspunkten werden auch virtuelle Währungen für beruflichen Erfolg, Beliebtheit im Freundeskreis oder die Zahl der gelesenen Bücher immer populärer. Da sich alles messen lässt, wird auch alles und jeder miteinander vergleichbar. Die Idee hinter diesem Mechanismus ist einfach: soziales Engagement, die Konzentration auf den Job oder die persönliche Bildung soll spielerisch verbessert werden. John ist allerdings skeptisch, ob diese gehäufte Form des »Tue Gutes und rede darüber« langfristig funktioniert. Er glaubt, dass immer weniger Leute aufgrund ihrer tatsächlichen inneren Überzeugung mitmachen, sondern nur, weil sie in den Ranglisten der sozialen Netzwerke aufsteigen wollen. Für ihn ist das Datenheuchelei.
Seit Kurzem sind auch Städte und Gemeinden auf das Konzept aufmerksam geworden. Zuerst wurde der Wasser- und Energieverbrauch von jedem Bürger erfasst und ein Wettkampf um die sparsamste und effizienteste Stadt ausgetragen. Jetzt gibt es Städtewettbewerbe in den Bereichen Gesundheit, Zufriedenheit, Bildung, Sicherheit usw. Das Verhalten jedes Einzelnen trägt zum Gesamtergebnis bei und soll für ein gesteigertes Gemeinschaftsgefühl innerhalb der Städte sorgen. Durch diese Form der Echtzeit-Verdatung entsteht in gewisser Weise eine Art Kollektivbewusstsein. Dass individuelles Handeln tatsächlich gesellschaftliche Auswirkungen haben kann, kann mit dieser Vorgehensweise von jedem Einzelnen verinnerlicht werden und nach und nach für einen gesamtgesellschaftlichen
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