Mein digitales Ich
drei Jahren sammelt er alle möglichen Daten über seinen Körper und über die Umgebungen, in denen sich dieser Körper aufhält. Dann vergleicht er jeweils den Datenverlauf seiner Körperdaten mit dem der entsprechenden Umgebungsdaten. Auf die Weise hat er schon viele Korrelationen entdeckt, die aufgrund ihrer Häufigkeit mit ziemlicher Sicherheit tatsächlich in einem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang stehen. So hat er beispielsweise entdeckt, dass Kopfschmerzen bei ihm eindeutig luftdruckbedingt sind. Oder dass es bei ihm einen ganz eigenen Zusammenhang gibt zwischen Gewichtszunahme und Körperfettanteil, von dem er bislang nichts wusste: Wenn der Körperfettanteil infolge von ungünstiger Ernährung und wenig Bewegung über 12,8 Prozent ansteigt, nimmt der Körper durch weiteres Essen auch an Gewicht zu. Unterhalb von 12,8 Prozent schlagen selbst überschüssige Kalorien nicht ins Gewicht, sondern steigern nur das Körperfett bis zu diesem Wendepunkt. Durch diese neue Erkenntnis sei für ihn jede Diät oder jedes Ernährungsprogramm im Hinblick auf das Körpergewicht unwichtig und sinnlos geworden, sagt Dr. Belusa. Und wenn sein Smartphone anzeigt, dass die aktuellen Daten zur Luftverschmutzung in seinem Jogginggebiet heute kritische Werte erreichen, dann geht er eben woanders joggen. Prävention durch Wissen, Wissen durch Daten, also Prävention durch Daten.
Eine Schwierigkeit beim Vermessen der Umgebung bestehtnatürlich darin, dass man erst einmal definieren muss, was »Umgebung« in diesem (Vermessungs-)Sinn bedeutet, und man ist diesbezüglich wohl (noch) auf Intuition, gesunden Menschenverstand und gegebenenfalls medizinisches (Vor-)Wissen angewiesen. Wenn mich mein Körpergewicht interessiert, werde ich wohl kaum die Lautstärke messen. Die dürfte eher relevant sein, wenn es zum Beispiel um Konzentration oder um die Schlafqualität geht. Obwohl – wer weiß? Schließlich befindet sich die Selbstvermessung noch im Pionierstadium, das Experiment Quantified Self hat gerade erst begonnen. Die Vermessung der Körperwelten ist ein großes Abenteuer, für Laien wie für Wissenschaftler.
Zu denen, die diesem Experiment skeptisch gegenüberstehen, gehört die Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh. In ihrem Artikel »Der vermessene Mann« warnt sie:
»Schon jetzt freut sich das überforderte Gesundheitssystem darauf, Quantified Self sukzessive zu einer allgemeinen Verpflichtung zu erheben, um auf dieser Grundlage Versicherungsleistungen nach dem Selber-schuld-Prinzip zu verweigern. Wenn es einen optimalen Lebensstil gibt, der zum optimalen Körper führt, dann gibt es auch messbare Abweichungen, an die sich Belohnung und Strafe knüpfen lassen. (…) Die Verknüpfung von Krankheit und Schuld bedeutet nicht weniger als das Ende von persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität – zwei Werte, die das Fundament einer demokratischen Gesellschaft bilden. Wer glaubt, Gesundheit und Wohlbefinden könne man sich erarbeiten, indem man entlang von Normen alles ›richtig‹ macht, der mag bald nicht mehr einsehen, warum er mit seinen Versicherungsbeiträgen für dieRaucherlungen, Säuferlebern und verfetteten Herzen irgendwelcher undisziplinierter Hedonisten aufkommen soll.« 20
Auch literarisch hat sich Juli Zeh mit dem Thema Gesundheit und Schuld auseinandergesetzt. Ihr im Jahr 2009 erschienener Roman Corpus Deliciti zeichnet das Horrorszenario einer Gesundheitsdiktatur, in der jeder Mensch das Bestmögliche für seinen Körper tun muss . Jeder Verstoß gegen das staatlich streng kontrollierte Fitnessgebot wird hart bestraft, und auch die Protagonistin landet vor Gericht, weil sie in Trauer um ihren im Gefängnis verstorbenen Bruder, den man des Mordes angeklagt und mittels eines irreführenden DNA-Tests für schuldig erklärt und verurteilt hatte, die obligatorischen Schlaf- und Ernährungsberichte und das tägliche Sportprogramm vernachlässigt hat. Man unterstellt ihr deswegen sogar terroristische Absichten.
Corpus Deliciti ist eine Dystopie, ein Stück Science-Fiction, das uns warnen will, wohin es im schlimmsten Fall führen kann, wenn die – heute schon gebräuchliche – Technik zur Körperüberwachung nicht mehr in der Regie des Einzelnen steht, sondern von anderen beherrscht wird. Ein solcher Übergang von der freiwilligen, selbstbestimmten Vermessung des eigenen Ich hin zu einer staatlich vorgeschriebenen und entsprechend kontrollierten Pflicht zur Selbstvermessung würde in der Tat eine neue
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