Mein digitales Ich
nicht? Wir bitten Wilhelm Breitenbürger um eine Einschätzung.
»Im Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden, dass Leute versuchen, mit Hilfe von technischen Geräten, die sie selbst leicht bedienen können, ihre Gesundheit in den Griff zu bekommen. Dieses Biofeedback kann zu mehr Entspannung führen, zu mehr Bewegung, zu Pausen, zu einer gesünderen Lebensweise. Es führt insgesamt zum Leben im Hier und Jetzt. Das ist Leben in der Gegenwart in voller Präsenz. Wie man diese Präsenz erreicht, ist egal, die Lebensenergie fließt dann. Der Mensch kann dann sagen: ›Ich bin, der ich bin.‹ Also, das könnte durchaus eine Ergänzung sein zur Gesprächsmedizin, bei der der fühlende Arzt den Patienten mit seinen Schwächen und Stärken erfasst, die Gefahren sieht, eine Diagnose stellt und berät und ihn unterstützt. Allerdings fehlt bei solchen Eigenmessungen meines Erachtens der Faktor ›Veränderungsenergie‹. Man muss schon sehr viel Willen aufbringen, sich selbst zu heilen. Aber gerade was die Prävention von Krankheiten angeht, halte ich die Selbstvermessung durchaus für sinnvoll.«
Allerdings, so wenden wir ein, besteht bei der Selbstvermessung doch sicher auch die Gefahr, dass die Geräte gar nicht dasmessen, was sie zu messen vorgeben. Kann man beispielsweise tatsächlich, wie es die Selbstvermesser tun, aus Hirnwellen, die während des Schlafs aufgezeichnet werden, oder aus einem Bewegungssensor, der misst, wie oft der Körper sich im Schlaf bewegt hat, ableiten, wie »gut« im Sinne von erholsam man geschlafen hat?
Die Antwort überrascht uns: »Auch wenn die Interpretation womöglich falsch ist«, sagt Breitenbürger, »so schafft die Beschäftigung damit die Vision der Besserung, die Vision der Gesundheit. Und das allein führt schon zu einer Verbesserung.«
Könnte er sich vorstellen, dass Patienten in Zukunft mit USB-Stick zu ihm in die Praxis kommen, um ihre über einen bestimmten Zeitraum gesammelten Daten mit ihm zu besprechen?
»Das würde ich nicht wollen. Um den Patienten zu erfassen, will ich keinen USB-Stick. Er kann ihn auf den Tisch legen, und ich rede mit ihm über seine Lebensträume und arbeite mit ihm an der Verwirklichung. Ich bin Unterstützer, eine Art Katalysator. Ich unterstütze den Patienten darin, dass seine eigene innere Natur zum Zuge kommt.«
Quantified Self – die passende Medizin für die digitale Gesellschaft?
Ob man sich auf diesem Weg zur eigenen inneren Natur, zu Selbsterkenntnis, Selbstverbesserung und -heilung lieber von einem in dieser Hinsicht kompetenten Arzt unterstützen lässtoder von neuen Technologien, ist wohl vor allem eine Typfrage. Ob man sich selbst lieber sprechend oder messend erkundet, ob man sich lieber in Worten abgebildet sieht oder in Zahlen, hängt wohl hauptsächlich davon ab, in welchem Element man sich wohler fühlt – im Erzählen oder im Zählen – und wem man mehr traut – dem entstandenen Text oder den gemessenen Zahlenwerten. Mit anderen Worten: Welchen Weg der Heilung ich einschlage, hängt davon ab, in welcher Kultur ich mich zu Hause fühle.
Jede Medizin ist hochgradig kulturspezifisch. Die Vorstellungen dessen, was »gesund« bedeutet und was »krank«, sowie die Mittel und Wege der Heilung sind eng mit dem Kulturkreis verzahnt, in dem sie entstanden sind und in dem sie sich entwickelt und weiterentwickelt haben. Jede Kultur, verstanden als gewachsene Gemeinschaft von ähnlich Lebenden, hat also ihre eigene Medizin, und es gibt eigene Wissenschaftszweige – Ethnomedizin, Medizinethnologie und Medizinsoziologie –, die diese kulturelle (und oft auch politische) Bedingtheit der weltweit existierenden Medizinen erforschen.
Die digitale Revolution hat seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert beinahe all unsere Lebensbereiche verwandelt, in einem ähnlichen Ausmaß, wie es im 19. Jahrhundert die Industrielle Revolution getan hat. Die Computerisierung zunächst der Arbeitswelt, inzwischen aber auch der privaten Lebensbereiche, hat unter anderem zur Folge, dass wir uns in einem noch nie gekannten Ausmaß mit einem technischen Gerät identifizieren. Der eigene Computer bzw. das Smartphone ist zum technischen Ableger der eigenen Persönlichkeit geworden. Die digitale Revolution ist eine Kulturrevolution.
Betrachtet man nun beides zusammen – die kulturelle Bedingtheit von Medizinen und die Computerisierung unserer Gesellschaft, die sich in den letzten 20 Jahren rasant vollzogen hat –, liegt der Schluss nahe, dass die computerisierte
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