Mein digitales Ich
Krankenbehandlung hätten, wenn sie mehr altbewährte Hausmittel kennen und mehr über gesunde Lebensführung wissen würden.«
Leider ist die Regel immer noch der passiv bleibende Patient, der Patient, der sich an den Dauergebrauch »seiner« Medikamente gewöhnt hat, statt selbst aktiv mit seinen Störungen umzugehen. »Im Gegenzug ist der Arzt natürlich wenig geneigt, Zusammenhänge aufzudecken, wenn er das Gefühl hat, der Patient sei selbst nicht sonderlich interessiert daran, Grundlegendes zu ändern«, sagt Breitenbürger. »Eine fataleWechselwirkung.« Mit seinem Praxisstil steuert er gegen diese Passivität auf der einen und die Uninspiriertheit auf der anderen Seite.
»Indem ich mir für den Patienten und das, was er zu erzählen hat, Zeit nehme, habe ich ein gutes Gefühl, dass das, was ich da erkenne, auch stimmig ist. Ich frage ihn: ›Was ist eigentlich los? In welcher Situation stehst du gerade?‹ Weil das ja oft der Grund für die Erkrankung ist: dass es irgendwelche Belastungsfaktoren gibt, in der Beziehung oder am Arbeitsplatz oder sonst etwas, das man gemeinsam besprechen kann. In der Regel brauche ich dann nicht so viel weitere Abklärung und kann etwas naturheilkundlich oder schulmedizinisch veranlassen, sei es Beratung, seien es Wickel, Tees oder Wärme-Kälte-Anwendungen und so weiter. Ich verschreibe aber auch durchaus Medikamente. Und ich gebe den Patienten Ratschläge, was sie tun können, die ich dann auch konkret mit ihnen durchspreche. Manchmal gebe ich ihnen Hilfestellungen über NLP (Anm.: Neurolinguistisches Programmieren), sodass sie selbst erkennen können, welche Situationen sie besonders belasten und wie sie sich aus diesem Gefühl der Belastung befreien können. Mit manchen mache ich Affirmationen, um an Zukunftszielen zu arbeiten, mit manchen mache ich auch Autogenes Training und andere Entspannungsübungen. Und ansonsten bin ich mit denen intensiv dabei, sie von da wegzuholen, wo sie gerade hängen.«
Dieser Praxisstil, sich mit genug Zeit und innerer Beteiligung um den Patienten zu bemühen, geduldig mit ihm die Zusammenhänge zwischen Beschwerden und Lebensführung zu erörtern, Verhaltensänderungen vorzuschlagen und Alternativen zu finden, ist hierzulande immer noch ein Luxus, den man sich als Arzt leisten können muss, den Patienten zuliebe.
»Längere Gespräche mit Patienten kann man als Kassenarzt immer noch nicht oder nur sehr begrenzt auf den Krankenscheinen abrechnen. Da muss man eben in die Psychotherapie selbst gehen. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte als Allgemeinarzt in der Kassenpraxis bleiben«, sagt Breitenbürger.
Durch die halbstündige Taktung, die es erlaubt, mit dem Patienten entspannt und ohne Zeitdruck über seine aktuelle Lebenssituation zu sprechen, hat er schon viele überraschende Diagnosen stellen, schon viele Zusammenhänge aufdecken können, die anders vermutlich nie ans Licht gekommen wären. Oder erst nach diversen aufwendigen Diagnoseverfahren.
So erzählt beispielsweise eine Patientin, Mittvierzigerin mit eigener Werbeagentur: »Eines Tages kam ich wegen einer seltsamen Hautveränderung zu ihm. Ich war sehr aufgeregt, weil ich nicht wusste, was das ist, und weil ich Angst hatte, dass etwas Schlimmes dahinterstecken könnte. Er sagte: ›Bleib mal ruhig. Das ist eine Schuppenflechte. Was ist denn gerade los in deinem Leben? Juckt dich was?‹ Tatsächlich hatte ich gerade in der Zeit ziemlichen Stress wegen einer Frau, mit der ich mir bis dahin ein Atelier geteilt hatte. Es war die Phase, in der wir unsere Ateliergemeinschaft auflösten und alles auseinanderdividieren mussten, auf zum Teil unschöne Art. Dass mich das belastete, war mir aber bis zu dem Zeitpunkt nicht bewusst gewesen.«
Verborgene Zusammenhänge aufdecken, die Wechselwirkungen erkennen zwischen dem eigenen Erleben und Verhalten einerseits und den körperlichen Reaktionen andererseits – darum geht es auch beim Selftracking. Ist das Ziel beimQuantified Self die »Selbsterkenntnis durch Zahlen«, so ist es für Ärzte wie Wilhelm Breitenbürger, könnte man sagen, die Selbsterkenntnis durch Worte. Erzähle mir, wie du lebst – und ich sage dir, was dir fehlt.
Da ein Arzt selten bereit oder in der Lage ist, sich derart intensiv für seine Patienten und ihr Leben zu interessieren, könnte Quantified Self hier womöglich ein Ersatz sein. Wenn man keinen Arzt hat, der angemessen zuhört, was man als Patient zu sagen hat, lässt man eben die Technik »zuhören«. Oder
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