Mein erfundenes Land
Kapriole geschlagen.
Wäre ich in meiner Heimat geblieben, wie ich es immer wollte, und hätte einen meiner Cousins zweiten Grades geheiratet, so sich denn einer für mich erwärmt hätte, vielleicht wäre ich heute eine würdige Nachfahrin meiner Altvorderen und das von meinem Vater erworbene Wappenschild mit den räudigen Hunden hinge an einem Ehrenplatz in meiner Wohnung. Es ist anders gekommen, aber wie rebellisch ich in meinem Leben auch gewesen sein mag, an die strikten Regeln eines höflichen Miteinanders, die mir von klein auf eingebleut wurden, habe ich mich doch stets gehalten, wie es sich für eine »anständige« Person gehört. Anständig zu sein war in meiner Familie entscheidend. Der Begriff umfaßt viel mehr, als ich auf diesen Seiten erklären könnte, aber gute Manieren haben zweifellos einen großen Anteil an dieser vermeintlichen Anständigkeit.
Ich bin vom Hundersten ins Tausendste gekommen und sollte den roten Faden wiederaufnehmen, sofern es in diesem Umherschweifen einen roten Faden gibt. So ist das Heimweh: ein langsamer Tanz im Kreis. Die Erinnerungen folgen keiner chronologischen Ordnung, sind so wechselhaft und flüchtig wie Rauch und verschwinden im Vergessen, wenn man sie nicht auf dem Papier festhält. Zwar versuche ich, diese Seiten nach Themen oder Zeitabschnitten zu gliedern, doch scheint mir das fast künstlich, da die Erinnerung vor und zurück schwingt wie ein nie endendes Möbiusband.
Ein Hauch von Geschichte
Und da wir von Heimweh sprechen, bitte ich Sie um etwas Geduld, denn ich kann das Thema Chile nicht von meinem eigenen Leben trennen. Mein Los ist aus Leidenschaften, aus Überraschungen, Erfolgen und Verlusten gemacht; es läßt sich schwer in zwei oder drei Sätzen erzählen. Im Leben jedes Menschen gibt es wohl Momente, in denen das Glück sich wendet oder der Wind sich dreht und man eine neue Richtung einschlagen muß. Bei mir war das häufiger so, doch zu den einschneidendsten Ereignissen gehört zweifellos der Militärputsch von 1973. Ohne ihn hätte ich Chile gewiß nie verlassen, ich wäre nicht Schriftstellerin geworden und würde heute nicht mit einem nordamerikanischen Ehemann in Kalifornien leben; das Heimweh wäre nicht seit langem mein Begleiter, und ich schriebe jetzt diese Seiten nicht. Das führt mich unweigerlich zur Politik. Um zu verstehen, wie es zum Putsch kam, muß ich kurz etwas über unsere politische Geschichte von ihren Anfängen bis zu General Augusto Pinochet sagen, der heute ein Tattergreis ist und unter Hausarrest steht, der aber Spuren hinterlassen hat, die man unmöglich ignorieren kann. Es mangelt nicht an chilenischen Historikern, die in ihm die herausragende politische Gestalt des 20. Jahrhunderts sehen, was nicht unbedingt ein schmeichelhaftes Urteil ist.
In Chile ist das Pendel der Politik von einem Extrem zum anderen ausgeschlagen, haben wir alle erdenklichen Regierungsformen erprobt und die Folgen am eigenen Leib erfahren; es ist also nicht verwunderlich, daß es bei uns mehr Verfasser zeitgeschichtlicher und historischer Abhandlungen auf den Quadratmeter gibt als in jedem anderen Land der Welt. Wir studieren unsere Gesellschaft ohne Unterlaß.Dabei haben wir die schlechte Angewohnheit, die Zustände als permanentes Problem zu betrachten, das einer sofortigen Lösung bedarf. Von dem, was die Gelehrten in ihren abgeschotteten Studierstuben ausbrüten, versteht man allerdings kein Wort; folglich werden sie nicht weiter beachtet, was sie aber nicht etwa entmutigt, sondern im Gegenteil dazu anspornt, Jahr um Jahr Hunderte akademische Artikel zu publizieren, die durch die Bank sehr pessimistisch sind. Bei uns gehört der Pessimismus zum guten Ton, man unterstellt, nur Trottel seien frohgemut. Chile ist ein Schwellenland, das stabilste und sicherste in Lateinamerika, es gedeiht und ist vergleichsweise gut organisiert, dennoch regt es uns auf, wenn jemand behauptet, alles stehe »zum Besten«. Wer das zu sagen wagt, wird als Ignorant abgestempelt, der keine Zeitung liest.
Seit der Unabhängigkeit im Jahre 1810 wird Chile von der sozialen Schicht gelenkt, die wirtschaftlich das Sagen hat. Früher waren das die Landbesitzer, heute sind es Unternehmer, Industrielle, Banker. Früher war diese Oligarchie sehr klein, bestand aus einer Handvoll Familien mit europäischen Wurzeln; heute ist die Führungsschicht etwas breiter, ein paar tausend Personen halten das Heft in der Hand. Während der ersten hundert Jahre der Republik entstammten
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