Mein erfundenes Land
einem Jahrzehnt ist die Demokratie nun wiederhergestellt, aber diese Spaltung ist nach wie vor selbst im Innern vieler Familien spürbar. Die Chilenen lernten, still zu sein, nichts zu hören und nichts zu sehen, denn solange sie es schafften, das Geschehen nicht zur Kenntnis zu nehmen, mußtensie sich nicht mitschuldig fühlen. Ich kenne Menschen, die in der Regierung Allende den Inbegriff alles Verwerflichen und Gefährlichen sahen. Für diese Menschen, die von sich behaupten, ihr Leben streng an christlichen Grundsätzen auszurichten, war der Sturz dieser Regierung eine solch zwingende Notwendigkeit, daß sie die Methoden nicht in Frage stellten. Und sie taten es auch dann nicht, als ein verzweifelter Vater, Sebastián Acevedo, sich mit Benzin übergoß und anzündete, sich wie ein buddhistischer Mönch auf der Plaza de Concepción opferte, weil seine Kinder in den Händen der Folterknechte waren. Irgendwie gelang es diesen Menschen all die Jahre, nichts von den Menschenrechtsverletzungen zu wissen – oder so zu tun, als wüßten sie nichts davon –, und selbst heute treffe ich noch manche, die das Geschehene wider alle Offensichtlichkeit abstreiten. In gewisser Weise kann ich sie verstehen, sie halten an ihren Überzeugungen fest wie ich an meinen. Sie denken über die Regierung Allende fast genauso wie ich über die Diktatur Pinochets, nur daß für mich der Zweck nicht die Mittel heiligt. Die Verbrechen, die während dieser Jahre im Dunkel verübt wurden, müssen zwangsläufig ans Licht kommen. Die Wahrheit auszusprechen ist der erste Schritt hin zur Aussöhnung, auch wenn die Wunden lange nicht werden verheilen können, weil diejenigen, die für die Repression verantwortlich waren, ihre Taten nicht eingestehen und nicht bereit sind, um Vergebung zu bitten. Die Verbrechen der Militärregierung werden ungesühnt bleiben, doch vertuschen und ignorieren kann man sie nicht mehr. Viele, vor allem junge Leute, die ohne kritisches Bewußtsein und politischen Dialog aufgewachsen sind, meinen, wir sollten aufhören, in der Vergangenheit zu stochern, und nach vorne schauen, aber die Opfer und ihre Familien können nicht vergessen. Möglich, daß wir warten müssen, bis die letzten Zeugen dieser Zeit gestorben sind, um dieses Kapitel unserer Geschichte schließen zu können.Die neuen militärischen Machthaber waren nicht eben ein Ausbund an Kultur. Aus der Distanz der vielen Jahre reizt einen das, was sie von sich gaben, zum Lachen, aber damals war es eher zum Fürchten. Die Verherrlichung des Vaterlands, der »Werte des christlichen Abendlandes« und des Militarismus nahm groteske Ausmaße an. Das Land wurde geleitet wie eine Kaserne. Ich hatte jahrelang eine humoristische Kolumne für eine Zeitschrift geschrieben und eine beschwingte Unterhaltungssendung im Fernsehen moderiert, aber in dem nun herrschenden Klima gab es eigentlich nichts, worüber man hätte lachen können, außer den Machthabern, und das war lebensgefährlich. Einzige Oasen der Komik waren vielleicht die »Dienstage mit Merino«. Einer der Generäle der Junta, Admiral José Toribio Merino, lud einmal wöchentlich zu einer Pressekonferenz über verschiedene Themen. Die Journalisten fieberten diesen Wundern geistiger Klarheit und Weisheit entgegen. Über die Verfassungsänderung, mit der man 1980 die Machtübernahme des Militärs nachträglich legitimieren wollte, sagte der Admiral beispielsweise in salbungsvollem Ernst: »Aus meiner Sicht ist das Bedeutendste daran, daß sie bedeutend ist.« Und um alle Klarheiten zu beseitigen, fuhr er fort: »Die Ausarbeitung der neuen Verfassung folgte zwei Grundüberlegungen; der politischen oder, wie wir sie nennen wollen, platonischaristotelischen Überlegung im klassisch griechischen Sinn, und andernteils einer strikt militärischen Überlegung, die sich von Descartes herleitet, die wir kartesisch nennen wollen. Im Kartesischen birgt die Verfassung all jenes, jenen Typus von Definitionen, die außerordentlich positiv sind, die nach der Wahrheit ohne Alternativen suchen, in der eins und zwei nicht mehr als drei sein kann und in der es keine andere Alternative gibt als drei…« Für den Fall, daß die Presse bis dahin womöglich nicht mehr mitkam, stellte Merino klar: »… und in dieser Form tut sich die Wahrheit gegenüber der aristotelischen Wahrheit auf oder, sagen wir,der klassischen Wahrheit, die für die Suche nach ihr gewisse Abstufungen zuließ; das ist überaus wichtig in einem Land wie dem unseren, das
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