Mein erfundenes Land
er die Ähren nicht mehr,
schon schweigt die Gitarre,
schon gibt es keine Luft mehr für diesen Mund,
schon kann er nicht mehr leben ohne Erde
und dann fällt er vornüber,
nicht auf die Erde, sondern in den Tod.
PABLO NERUDA, »Exilios«
aus Cantos ceremoniales
Das von der Diktatur eingeführte Wirtschafts- und Wertesystem hat zu einigen Veränderungen geführt, die bis in die Gegenwart spürbar sind, unter anderem kam die Angeberei in Mode: Wer nicht reich ist, muß Schulden machen, um danach auszusehen, auch wenn er löchrige Socken trägt. Wie im überwiegenden Rest der Welt ist auch in Chile der Konsum die Weltanschauung von heute. Durch die Wirtschaftspolitik, durch Mauscheleien und eine Korruption von nie dagewesenen Ausmaßen entstand eine neue Kaste von Millionären. Positiv daran war, daß die Mauer zwischen den gesellschaftlichen Sphären Risse bekam; nun war ein altehrwürdigerName nicht mehr der einzige Ausweis, durch den man Eintritt in die Gesellschaft fand. Der selbsternannte Adel wurde vom Spielfeld gefegt und ersetzt durch junge Unternehmer und Technokraten, die auf chromglänzenden Motorrädern und im Mercedes vorfuhren, und durch einige Militärs, die auf Schlüsselpositionen in der Regierung, der Industrie oder im Finanzwesen das große Geld gemacht hatten. Allerorten waren plötzlich Uniformierte vertreten: in Ministerien, an Universitäten, in Unternehmen, Salons, Klubs…
Die entscheidende Frage muß sein, warum die Diktatur von mindestens einem Drittel der Bevölkerung unterstützt wurde, obwohl die meisten Menschen es nicht leicht hatten und selbst die Anhänger der Junta in Furcht lebten. Die Unterstützer der Linken und der arme Teil der Bevölkerung hatten zweifellos am meisten zu leiden, aber die Unterdrückung machte vor niemandem halt. Alle fühlten sich überwacht, niemand konnte von sich behaupten, er sei vor dem Zugriff des Staates sicher. Es stimmt, daß die Presse zensiert und eine Propagandamaschinerie zur Gehirnwäsche in Gang gesetzt worden war; es stimmt auch, daß die Opposition einen hohen Blutzoll zahlte und viele Jahre brauchte, bis sie sich neu organisiert hatte; aber das erklärt nicht, warum der Diktator beliebt war. Diejenigen in der Bevölkerung, die Pinochet bejubelten, taten das nicht nur aus Angst; den Chilenen gefällt es, wenn hart durchgegriffen wird. Sie glaubten, die Militärs würden das Land »säubern«. »Es wird nicht mehr geklaut, die Wände sind nicht mehr mit Graffiti verschmiert, alles ist sauber, und dank der Sperrstunde kommen die Männer beizeiten nach Hause«, erklärte mir eine Freundin. Das machte ihrer Ansicht nach den Verlust der bürgerlichen Rechte wett, weil der sie nicht unmittelbar betraf; sie hatte das Glück, daß keines ihrer Kinder von einem Tag auf den anderen die Arbeit verloren hatte oder verhaftet worden war. Ich begreife ja, daß die Anhängerder Rechten, die sich im Verlauf unserer Geschichte nie als Gralshüter der Demokratie hervorgetan haben und sich in diesen Jahren bereicherten wie nie zuvor, auf Seiten der Diktatur standen, aber die anderen? Auf diese Frage habe ich keine befriedigende Antwort gefunden, was bleibt, sind Mutmaßungen.
Pinochet verkörperte den unduldsamen Vater, der für Zucht und Ordnung sorgt. Die drei Jahre der Unidad Popular waren eine Zeit des Ausprobierens, der Veränderung und Unordnung gewesen; das Land war müde. Die Repression machte Schluß mit dem ständigen Politisieren, und der Neoliberalismus zwang die Leute, auf der Arbeit den Mund zu halten und produktiv zu sein, damit die Unternehmen auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig wurden. Fast alles wurde privatisiert, selbst das Gesundheitssystem, das Bildungswesen und die Sozialversicherung. Die Notwendigkeit zu überleben regte die Privatinitiative an. Heute exportiert Chile nicht nur mehr Lachs als Alaska, sondern auch unzählige andere Produkte, die dort keine Tradition haben, wie Froschschenkel, Gänsefedern und geräucherten Knoblauch. Die nordamerikanische Presse feierte den Triumph des ökonomischen Systems und schrieb Pinochet das Verdienst zu, aus diesem armen Land den Leitstern Lateinamerikas gemacht zu haben; aber die Kennzahlen sagten nichts über die Verteilung des Reichtums; man erfuhr nichts über die Millionen von Menschen, die in Armut und Unsicherheit lebten. Daß Tausende Familien in den Elendsvierteln von den Armenspeisungen abhängig waren – allein in Santiago gab es zeitweise mehr als fünfhundert solcher
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