Mein erfundenes Land
Suppenküchen –, wurde sowenig erwähnt wie die Tatsache, daß Privatleute und Kirchen sich mühten, soziale und karitative Aufgaben zu übernehmen, die eigentlich Sache des Staates wären. Es gab keinerlei öffentliches Forum, in dem man die Maßnahmen der Regierung oder der Unternehmer hätte diskutieren können; staatliche Dienstleistungen wurdenprivatisiert, ohne sich um die sozialen Auswirkungen zu scheren, und natürliche Ressourcen wie die Wälder und das Meer ausländischen Unternehmen überlassen, für die Umweltschutz ein Fremdwort ist. Man schuf eine gnadenlose Ellbogengesellschaft, die den Gewinn heilig hält; wer arm ist, ist selber schuld, und wer sich beklagt, ganz bestimmt Kommunist. Die Freiheit besteht darin, daß man aus vielen verschiedenen Marken auswählen darf, was man auf Kredit kaufen will.
Die Wachstumsraten der Wirtschaft, die vom Wall Street Journal bejubelt wurden, bedeuteten keine Entwicklung, denn die Hälfte des Reichtums entfiel auf zehn Prozent der Bevölkerung, und es gab hundert Personen, denen im Jahr mehr Geld zufloß, als der Staat im gleichen Zeitraum für Sozialausgaben bereitstellte. Die Weltbank bescheinigt Chile, daß es Seite an Seite mit Kenia und Simbabwe eines der Länder mit der ungünstigsten Einkommensverteilung ist. Als Manager eines chilenischen Konzerns verdient man so viel – oder mehr – wie jemand in einer vergleichbaren Position in den Vereinigen Staaten, während ein Arbeiterlohn in Chile nur ungefähr ein Fünfzehntel von dem in den USA beträgt. Noch heute, nach über zehn Jahren der Demokratie, ist die ökonomische Ungleichheit erschreckend, weil sich am Wirtschaftsmodell nichts geändert hat. Den drei Präsidenten nach Pinochet waren die Hände gebunden, weil die Rechte die Wirtschaft, den Kongreß und die Medien kontrolliert. Dennoch hat Chile sich vorgenommen, binnen zehn Jahren das Stigma des Entwicklungslands abzuschütteln, was sehr gut möglich ist, sofern man den Reichtum besser verteilt.
Wer war dieser Pinochet eigentlich, dieser Soldat, der mit seiner kapitalistischen Revolution und zwei Jahrzehnten der Repression Chile seinen Stempel aufdrückte? (Ich schreibe über ihn in der Vergangenheitsform, obwohl er noch lebt, weil er unter Hausarrest steht und das Land zu vergessen versucht, daß es ihn gibt. Er gehört der Vergangenheit an,auch wenn sein Schatten weiter umgeht.) Warum war er so gefürchtet? Wofür wurde er bewundert? Ich bin ihm nie persönlich begegnet und habe die längste Zeit seiner Regierung nicht in Chile gelebt, und so kann ich ihn nur anhand seiner Taten und auf der Grundlage dessen, was über ihn geschrieben wurde, beurteilen. Um ihn zu begreifen, sollte man vielleicht Romane wie Das Fest des Ziegenbocks von Mario Vargas Llosa oder Der Herbst des Patriarchen von Gabriel García Márquez lesen, denn er hatte viel vom Typus des lateinamerikanischen Caudillo, der von beiden Autoren vortrefflich charakterisiert wird. Er war ein schroffer, kalter, autoritärer und intriganter Mann, der keine Skrupel kannte und nur gegenüber der Armee als Institution Loyalität empfand, nicht jedoch gegenüber seinen Waffenbrüdern, die er zum eigenen Vorteil ermorden ließ wie General Carlos Prats und andere. Er glaubte, er sei von Gott und der Geschichte dazu auserwählt, das Vaterland zu retten. Er hatte ein Faible für Orden und militärischen Pomp; er war ein Egomane und gründete sogar eine Stiftung mit seinem Namen, die sein Bild in der Öffentlichkeit bewahren und pflegen soll. Er war argwöhnisch und gerissen, gab sich gerne leutselig und konnte sogar nett sein. Von den einen bewundert, von den anderen gehaßt, von allen gefürchtet, war er wahrscheinlich die Persönlichkeit unserer Geschichte, die am meisten Macht in Händen hielt und das für die längste Zeit.
Chile im Herzen
In Chile vermeidet man es, über die Vergangenheit zu sprechen. Die jüngeren Generationen glauben, die Welt habe mit ihnen begonnen; was zuvor war, interessiert nicht. Bei den Älteren scheint mir eine Art kollektiver Scham über das Geschehen während der Diktatur zu herrschen, vielleicht vergleichbar mit dem, was die Deutschen nach Hitler empfanden. Junge wie Alte weichen dem Konflikt aus. Niemand will sich in Diskussionen verbeißen, die den Graben in der Gesellschaft vertiefen könnten. Außerdem schuften die meisten immerzu und haben keine Zeit, sich Gedanken über Politik zu machen, sie halten auf der Arbeit den Mund, damit sie nicht entlassen werden,
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