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Mein erfundenes Land

Mein erfundenes Land

Titel: Mein erfundenes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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übernahmen. Nein, etwas Derartiges war bei uns undenkbar, in Chile waren doch selbst die Soldaten aufrechte Demokraten, und niemand würde es wagen, die Verfassung zu verletzen. Es war die pure Ignoranz, denn ein Blick in unsere Geschichte hätte uns eines Besseren belehren können.
    Als ich Ende der neunziger Jahre für meinen Roman Porträt in Sepia recherchierte, erfuhr ich manches über die Kriege im 19. Jahrhundert, in denen sich unsere Streitkräfte als ebenso unerschrocken wie grausam erwiesen hatten. Eines der bekanntesten Beispiele ist die Erstürmung des Morro de Arica im Juni 1880 während des Salpeterkriegs gegen Peru und Bolivien. Der Morro ist eine Klippe, die zweihundert Meter senkrecht ins Meer stürzt, und dort oben hatten sich starke peruanische Truppenverbände mit schwerer Artillerie hinter einer drei Kilometer langen Linie aus Sandsäcken verschanzt und die Stellung mit einem Minenfeld gesichert. Die chilenischen Soldaten stürmten mit Krummessern zwischen den Zähnen und aufgepflanzten Bajonetten den Hügel. Unzählige fielen unter den feindlichen Kugeln oder wurden von den Minen verfetzt, aber nichts konnte die anderen aufhalten, die es bis zu den Wällen schafften und sie im Blutrausch überkletterten. Mit ihren Messern und Bajonetten schlitzten sie den Peruanern die Bäuche auf, und in unvorstellbarer Tollkühnheit hatten sie den Morro in weniger als einer Stunde eingenommen; dann brachten sie die Besiegten um, töteten die Verwundeten und plünderten Arica. Einer der peruanischen Offiziere stürzte sich ins Meer, um den Chilenen zu entgehen. Die Gestalt des stattlichen Reiters, der auf einem schwarzen Roß mit goldenen Hufeisenüber den Rand der Klippe prescht, ist Teil der Legende von diesem grausigen Kampf geworden. Der Krieg wurde später durch den chilenischen Sieg bei der Schlacht um Lima entschieden, die den Peruanern als Massaker im Gedächtnis ist, auch wenn die chilenischen Geschichtsbücher behaupten, unsere Truppen hätten die Stadt in geregelter Weise eingenommen.
    Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Jedes Land rückt seine Soldaten ins günstigste Licht, Fehler werden vertuscht, die Widerwärtigkeiten geschönt, und nach der gewonnenen Schlacht sind alle Helden. Da man uns in dem Glauben erzogen hatte, die chilenischen Streitkräfte setzten sich aus gehorsamen Soldaten unter dem Befehl untadeliger Offiziere zusammen, war es ein böses Erwachen, als wir sie am Dienstag, dem 11. September 1973, in Aktion sahen. Über die Männer, die den Morro de Arica stürmten, wurde gemutmaßt, sie seien von der »chupilca del diablo« berauscht gewesen, einem teuflischen Gemisch aus Schnaps und Schießpulver, und in ähnlicher Weise sprach man angesichts der Auswüchse nach dem Putsch davon, die Soldaten hätten unter Drogen gestanden. Der Moneda-Palast, Regierungssitz und Symbol unserer Demokratie, wurde von Panzern umstellt und dann aus der Luft bombardiert. Allende starb in dem Gebäude; offiziell heißt es, er habe Selbstmord begangen. Es gab Hunderte von Toten, und so viele Tausend wurden verhaftet, daß man die Stadien und sogar einige Schulen in Gefängnisse, Folterzentren und Konzentrationslager verwandelte. Unter dem Vorwand, das Land vor einer hypothetischen kommunistischen Diktatur zu bewahren, die sich dort womöglich in Zukunft entwickeln könnte, ersetzte man die Demokratie durch ein Terrorregime, das siebzehn Jahre Bestand haben sollte und dessen Folgen noch ein Vierteljahrhundert später zu spüren sind.
    Ich erinnere mich der Angst als eines dauernden Geschmacks von Metall im Mund.

Pulver und Blut
    Um sich eine Vorstellung vom Putsch zu machen, sollte man sich in die Haut eines US-Amerikaners oder eines Engländers versetzen, der mit ansehen muß, wie seine Soldaten das Weiße Haus oder den Buckingham Palace und das Unterhaus mit schwerem Gerät erstürmen, den Tod unzähliger Menschen verschulden, auch den des Präsidenten oder der Queen und des Premierministers, wie sie den Kongreß bzw. das Unterhaus auf unbefristete Zeit beurlauben, den Obersten Gerichtshof seines Amtes entheben, wie sie die individuellen Freiheiten für ungültig erklären, die politischen Parteien auflösen, eine lückenlose Zensur über alle Massenmedien verhängen und sich in die Aufgabe verbeißen, jede abweichlerische Stimme zum Schweigen zu bringen. Weiter stelle man sich vor, diese Soldaten würden sich, besessen von einem fanatischen Sendungsbewußtsein, für lange Zeit an den

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