Mein erfundenes Land
fürchteten, er werde an der Regierung festhalten wie Fidel Castro in Kuba.
Salvador Allende war ein Cousin meines leiblichen Vaters und der einzige von der Familie Allende, der weiter mitmeiner Mutter in Verbindung blieb, nachdem mein Vater gegangen war. Er war ein guter Freund meines Stiefvaters, und so traf ich während seiner Präsidentschaft häufiger mit ihm zusammen. Obwohl ich nicht für seine Regierung aktiv war, waren diese drei Jahre der Unidad Popular gewiß die interessantesten meines Lebens. Nie habe ich mich vergleichbar lebendig gefühlt oder je wieder so teilgenommen an einer Gemeinschaft oder den Ereignissen eines Landes.
Aus heutiger Sicht kann man sagen, daß der Marxismus als ökonomisches Projekt tot ist, aber einiges von dem, wofür Salvador Allende einstand, hat, wie ich glaube, nichts von seiner Anziehungskraft verloren, so etwa die Suche nach Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Gleichbehandlung. Es ging darum, ein System zu schaffen, das allen dieselben Chancen böte, und darin den »neuen Menschen«, der sich nicht von individuellem Gewinnstreben, sondern von der Sorge um das Allgemeinwohl leiten ließe. Wir glaubten, man könne die Menschen durch Belehrung ändern; wir verschlossen die Augen davor, daß die Ergebnisse andernorts, wo man das sogar mit eiserner Hand durchzusetzen versuchte, mehr als zweifelhaft waren. Den Zusammenbruch der sowjetischen Welt stellte sich damals noch niemand vor. Heute erscheint der Gedanke, die menschliche Natur sei zu einem derart radikalen Wandel fähig, naiv, aber damals verfochten ihn viele von uns mit großem Ernst. Er erfaßte das Land wie ein Flächenbrand. Ich habe ja schon einige Charakterzüge der Chilenen beschrieben: daß sie nüchtern sind, die Angeberei fürchten, sich nicht über andere erheben oder auffallen wollen, großzügig sind, Konfrontationen vermeiden und Kompromisse suchen, Gesetze lieben und Autoritäten achten, die Bürokratie ertragen und gern politische Diskussionen führen. Für all das und etliches mehr bot das Projekt der Unidad Popular den idealen Rahmen. Selbst die Mode blieb nicht unbeeinflußt. In diesen drei Jahren trugen die Mannequins in den Modezeitschriften grob geschneiderteEthno-Kleider und proletarische Treter; aus chlorgebleichten Mehlsäcken wurden Blusen genäht. Ich war bei der Zeitschrift, für die ich arbeitete, für die Seiten mit den Wohnideen zuständig und fühlte mich herausgefordert, möglichst freundliche und gemütliche Räume zu fotografieren, deren Einrichtung fast nichts kosten sollte: Lampen aus Blechdosen, Teppiche aus Hanf, Fichtenholzmöbel, die mit dunkler Beize und einem Schweißbrenner auf alt getrimmt waren. Wir nannten sie »Mönchsmöbel« und wollten, daß sie jeder mit ein paar Brettern und einer Säge selber bauen konnte. Es waren die goldenen Jahre des sogenannten DLF2, eines Gesetzes zur Förderung von Wohneigentum, durch das man Wohnungen von maximal hundertvierzig Quadratmetern steuerbegünstigt und zu erschwinglichen Preisen erwerben konnte. Die meisten dieser Häuser und Wohnungen waren gerade mal so groß wie eine Doppelgarage; mein Mann und ich hatten allerdings neunzig Quadratmeter zur Verfügung, und wir fühlten uns wie in einem Palast. Meine Mutter, die bei der Zeitschrift Paula die Kochseiten betreute, mußte billige Rezepte mit Zutaten erfinden, an denen kein Mangel herrschte; bedenkt man, daß es an allem fehlte, war sie in ihrer Kreativität etwas beschnitten. Eine peruanische Künstlerin, die in dieser Zeit zu Besuch kam, wunderte sich, daß die Chileninnen sich wie Leprakranke kleideten, in Hundehütten hausten und wie Fakire aßen.
Trotz der vielfältigen Probleme, denen sich die Menschen in diesen drei Jahren gegenübersahen, angefangen bei der Mangelwirtschaft bis hin zu politisch motivierter Gewalt, konnte die Unidad Popular bei den Parlamentswahlen im März 1973 einen Stimmenzuwachs verzeichnen. Der Versuch, die Regierung durch Sabotageakte und Propaganda zu stürzen, hatte nicht zu den erhofften Ergebnissen geführt; da trat die Opposition in die letzte Phase der Konspiration ein und provozierte einen Putsch des Militärs. Wir Chilenen machten uns keine Vorstellung, was auf uns zukam, dennwir lebten seit langem in einer stabilen Demokratie und bildeten uns ein, anders zu sein als die übrigen, von uns despektierlich als »Bananenrepubliken« bezeichneten Länder des Kontinents, in denen alle Nase lang irgendwelche Caudillos die Regierung mit Waffengewalt
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