Mein Erzengel (German Edition)
zu beschäftigen. Man kann es auch eine Sucht nennen. Solange er sich gebraucht fühlt und ständig im Einsatz ist, muss er nicht daran denken, was für ein Würmchen er eigentlich ist. Die Symptome, die du beschrieben hast, deuten eindeutig auf Burn-out hin, pausenloses Arbeiten, sich unentbehrlich fühlen, nicht auf eigene Bedürfnisse achten, Freunde und die Lebenspartnerin vernachlässigen, Erschöpfung, Flucht in den Alkohol, Schuldzuweisungen an andere, die ganze Palette. Und irgendwann bricht er dann zusammen.»
«Vielleicht sollte ich darauf warten?»
«Solange er trinkt, hast du keine Chance. Du kommst an ihn nicht heran. Er wird dir mit Ironie, Sarkasmus oder Zynismus antworten.»
«Das ist sowieso sein Muster. Eine Zeitlang hat er es mit meiner Hilfe geschafft, darauf zu verzichten. Jetzt ist er wieder dorthin zurückgekehrt.»
«Eben. Und solange er sich für unersetzbar hält, wird er nicht erkennen, was mit ihm los ist. Einer, der schon so lange in diesem Teufelskreis steckt und offensichtlich bereit ist, die Zerstörung seiner Ehe billigend in Kauf zu nehmen, braucht dringend therapeutische Hilfe.»
«Das kannst du vergessen. Michaël verachtet Psychologen. Mehrmals hat er mir von einer Psychologin erzählt, die fettleibig ist und Frauen berät, die abnehmen wollen. Sie steht in seinen Augen stellvertretend für alle Psychologen, die seiner Meinung nach diesen Beruf nur ausüben, um ihre eigenen Probleme zu bewältigen, oder eben nicht, wie in diesem Fall.»
«Erst gestern haben wir uns über Radovan Karadžić unterhalten», wirft Erika ein. «Bevor er Kriegsherr wurde, war er Psychologe, das muss man sich vorstellen! Für eine narzisstisch gestörte Persönlichkeit wie ihn war die psychotherapeutische Arbeit auf die Dauer unbefriedigend, denn schnelle Erfolge sind selten. Als Kriegsherr kam er rascher zum Ziel. Als sein Kriegsglück nachließ, war er unfähig, seine Niederlage einzugestehen. In seiner maßlosen Selbstüberschätzung meinte er, es seinen Leuten schuldig zu sein, immer weiterzukämpfen.»
«Das geht mir aber jetzt zu weit!», springt Ruth Michaël bei. «Auch wenn er gestört sein mag, womit ihr ja recht habt, so rettet er doch Menschenleben. Das ist eine Tatsache!»
«Willst du ihn unbedingt weiter bewundern?», wird nun Heike ärgerlich. «Als er dich geheiratet hat, hat er sich entschieden, Verantwortung für dich zu übernehmen. Er hat es dir sogar expressis verbis versprochen. Genau deswegen bist du ja auf ihn reingefallen. Also hast du jetzt ein Anrecht darauf. Man kann nicht das Leid eines einzelnen Menschen gegen das Leid anderer ausspielen, auch wenn es noch so viele sind. Es gibt so viel Leid auf der Welt, da dürfte man niemals einen einzelnen Menschen ernst nehmen. Er muss sich Zeit nehmen für dich – vorausgesetzt, es liegt ihm noch etwas an dir. Angeblich hat er doch aus dem Vera-Debakel gelernt. Es wird sich doch noch einer finden, der ihn entlasten kann.»
«Er sagt, das geht nicht, sein System funktioniert nur mit seiner Person. Was er begonnen hat, muss er selbst zu Ende führen.»
«Ja, eben, genau das ist es!», triumphiert Barbara. «Er will unersetzlich sein.»
8
Eigentlich wolle er sich nicht scheiden lassen, sagt Michaël der Anwältin, die ihm Ruths Scheidungswunsch mitteilt. Insgeheim hat Ruth gehofft, die Perspektive einer endgültigen Trennung werde ihn erschrecken, ihm vor Augen führen, was er dabei ist zu verlieren. Sie, Ruth, die Frau, mit der er alt werden wollte. Ruth, die er wie die Jungfrau Maria auf einen Sockel gehoben hat. Ruth, sein politisches Wollen. Doch sein politisches Wollen hat sich in der Zwischenzeit verschoben. Das Patriarchat, dem sie einst als Paar die Stirn bieten wollten, hat andere Formen angenommen, als sie damals ahnen konnten. Krieg war nicht vorgesehen. Und gerade sie, ein Kind des Krieges, müsse das einsehen.
Die Anwältin berichtet Ruth am Telefon von der Unterredung. «Was willst du, wenn du die Scheidung nicht willst?», habe sie, die ihn durch Ruth schon eine Weile kannte, ihn gefragt. Er wolle seine Ruhe, habe er geantwortet. «Aber Menschen geben manchmal keine Ruhe, sie sind keine Maschinen, die man abstellen kann.» Darauf entgegnete er: «Ich kann ihr nicht helfen. Ich bin erschöpft. Ich habe keine Kraft.» – «Was bedeutet dann noch Liebe?», habe sie ihn gefragt. Da habe Michaël nur verächtlich geschnaubt. «Also was willst du?», habe sie insistiert.
«Und weißt du, was er darauf geantwortet
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