Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
Vom Netzwerk:
antwortet er ihr, als Ruth Michaël fragt, ob er sich noch eine Zukunft mit ihr vorstellen könne, und schaut mit gequältem Blick in die Ferne. Sie ist ja bereit, auf ihn zu warten, nur muss sie wissen, ob er das überhaupt wünscht. Immer mehr verschließt er sich, ruft nicht mehr an, legt auf, wenn sie versucht, ein Gespräch zu erzwingen, stellt sogar das für seine Arbeit unumgängliche Faxgerät ab. Und je mehr er sich entzieht, desto verzweifelter versucht sie, ihn wiederzubekommen.
    Einmal habe eine junge Frau im Nachthemd ihrem Mann geöffnet, berichtet Smits Frau ungebeten. Seit Amira nicht mehr für ihn arbeitet, hat Michaël eine neue Sekretärin, eine schöne Frau mit großen schwarzen Augen, und obendrein noch Jüdin. Als Ruth sie das erste Mal sieht, verspürt sie einen Stich. Ist es nichts anderes als das?, fragt sie ihn per Fax nach Frau Smits Anruf. Ist das die einfache Erklärung? Fast wünscht sie, es wäre so. Eine Affäre könnte sie besser verstehen als sein scheinbar grundloses Schweigen. Michaël reagiert hämisch: «Ihr glaubt wohl, das Leben ist eine einzige Soap! Habt ihr wirklich nichts anderes im Kopf?» Ob etwas dran war an der Vermutung, hat sie nie erfahren. Irgendwann wandert die Frau dann mit ihrem Mann nach Australien aus.

    Zwischendurch versuchen es Ruth und Michaël wieder. Sie treffen sich in einem einst noblen Kurort am Meer. In ihrem Hotelzimmer stehen zwei getrennte Betten, sie schieben sie zusammen, um einander Ehe vorzuspielen. Ohne Vollzug. Sie gehen essen, sitzen unter Weinreben. Noch ehe der Fisch serviert wird, haben sie eine Flasche Wein leer getrunken. Sie schauen sich um, bewundern die verwitterten Gebäude, die schmalen Gassen, machen auf Urlaub. Nur einander sehen sie nicht an. Sie vereinbaren ein Treffen in Wien. Michaël wählt das Hotel aus, mitten in der City, eine schöne Lage. Wieder wollen sie Urlaub spielen, in Ruths eigener Stadt. Diesmal schaffen sie es nicht einmal bis zum Abendessen. Ruth sitzt mit angezogenen Beinen auf dem Doppelbett und heult, er hockt gleich neben der Tür auf der Ablage für die Koffer, hat nicht einmal die Jacke ausgezogen, immer noch dieselbe mit dem herausgerissenen Stück Stoff. Er klammert sich an seine Laptoptasche, starrt ins Leere. Ruth lässt ein Taxi kommen, sie wird die Nacht bei Heike verbringen.
    «Geh zum Teufel!», schreit sie, als sie die Tür hinter sich zuzieht.
    Ein Krieg nimmt seinen Anfang mit der Aufkündigung des Gesprächs, der Weigerung, sich auf die Argumente und Gefühle der Gegenseite einzulassen. Zwischen ihnen ist Krieg. Ruth steht fassungslos vor der Frage nach dem Warum, deren Beantwortung Michaël verweigert. Was soll sie nur tun? Er habe kein Recht, irgendetwas von ihr zu verlangen, antwortet Michaël auf ihre Frage, was er von ihr erwarte. «Mach, was du willst», antwortet er auf ihre Frage, ob sie sich trennen sollen. Ruths Angebot, ihm vor Ort ehrenamtlich zu helfen, lässt ihn verächtlich schnauben, sie wäre nur eine Belastung. Wahrscheinlich hat er recht.
    Ruth ist auf sich allein gestellt, die schützende Hülle ist zerplatzt. Auch er ist allein, immer mehr Menschen lassen ihn im Stich, wollen sich nicht mehr seinem hohen moralischen Anspruch fügen. Nur für die Geretteten bleibt er Gott. Ruth schämt sich für ihre Abhängigkeit. Nichts macht ihr Spaß ohne ihn. Lieber bleibt sie daheim hocken, als allein ins Kino zu gehen. Sie hat die Lust am Leben verloren, selbst die Arbeit, mit Hilfe derer sie sich bis jetzt noch aus allen Tiefs hat retten können, verrichtet sie lust- und einfallslos. Sie ruft auch niemanden an, um sich abzulenken, richtet sich in ihrem Unglück ein. Mit nur einem einzigen Gedanken: Michaël. Mit einer einzigen Angst: ihn zu verlieren.
    Sie ist Vera geworden. Sie sieht sich auf Rollschuhen geradeaus laufen, immer geradeaus, flankiert von hohen grauen Betonmauern. Das einzige denkbare Ziel dort in der Ferne ist der Tod.

7
    Ein schneller Schnitt soll helfen, sie muss handeln, sonst dreht sie durch. Ruth fährt nach Wien, um sich mit Heike zu beraten. Ihre Wiener Freundinnen sind alle noch da, nur selten rührt sich eine von der Stelle. Die Wiener sind konservativ und lieben ihre Stadt. Immer wieder haben Freunde sie gefragt, wie sie es über sich bringe, im Ausland zu leben. Sie begreifen nicht, dass eine wie sie, deren Eltern vor den Nazis fliehen mussten, keine Möglichkeit hatte, Heimatgefühle zu entwickeln. Im Ausland geboren, in einem Land aufgewachsen, aus

Weitere Kostenlose Bücher