Mein Erzengel (German Edition)
Michaël mit diesen Texten vor? War das seine Art, die Geschehnisse in seinem Leben zu bewältigen? Offensichtlich fiel ihm Schreiben leichter als Reden. Warum hat er ihr nie etwas gezeigt? Atemlos liest Ruth weiter.
DIE WASSERFLASCHE
Er schraubte den Verschluss der Wasserflasche zu, stellte sie genau dort auf den Schreibtisch, wo durch die Jalousie helle Lichtflecke auf das Holz fielen, stützte das Kinn in beide Hände und starrte unverwandt auf die Fliege, die in Panik gegen die Wand ihres Glasgefängnisses donnerte. Sie dazu zu bringen, in den engen Flaschenhals zu kriechen, war eine Meisterleistung gewesen. Nun war ihr Schicksal besiegelt, es sei denn, er ließe sie wieder frei, was er nicht beabsichtigte. Es befriedigte ihn, den Todeskampf eines Geschöpfes zu beobachten, das mehr noch als er selbst in der Falle steckte.
Manchmal im Schlaf fühlte er sich noch lebendig, wilde Geschichten jagten ihn durch die Nacht. In einem mehrmals wiederkehrenden Traum entblößte sich eine Klosterschwester vor ihm. Sie öffnete den Habit, und ihre Brüste quollen aus dem schwarzen Mieder. Er war ein kleiner Junge, so klein, dass er der schrill lachenden Nonne direkt auf das schwarze Dreieck starrte, ein Spitzentanga, aus dem Kräuselhaare drängten. Die Beine der Frau schienen in dunklen Strümpfen zu stecken, doch bei näherer Betrachtung sah er, dass sie behaart waren wie die Gliedmaßen eines Affen. Er streckte die Hand aus, um das Fell zu streicheln, doch da schlug sie ihm mit einem in rote Farbe getauchten Pinsel auf den Handrücken. Der blutige Schlag hinterließ einen tiefen dröhnenden Klang, der sich vervielfachte wie Trommelwirbel. Von dem Lärm wachte er auf. Um die Fülle der Bilder hinüberzuretten in die Ödnis des anbrechenden Tages, zog er die Decke über den Kopf, bis der Geruch seines eigenen Schweißes ihm ekelhaft wurde. Allmählich trat der Traum den Rückzug an, und die Glaswände seines Gefängnisses schossen hoch. Der neue Tag würde ihm ebenso wenig Freude bringen wie der vergangene und der kommende.
Die Fliege war müde geworden. Matt saß sie auf dem Grund der Flasche und ruhte sich aus. Auch ihn begann das Schauspiel zu langweilen.
KÖRPER
Jemand hatte eine Schachtel Gauloises Blondes liegenlassen. Eine Schachtel, aus der nur eine einzige Zigarette fehlte. Er selbst war Nichtraucher. Der Rauch, der andere sichtbar entspannte, brachte ihn zum Husten. Aber schon zuzusehen, wenn Raucher den Rauch genussvoll einatmen, einen Moment mit halbgeschlossenen Augen verharren wie in Trance und ihn dann mit einem hingebungsvollen Seufzer austreten lassen aus Mund und Nase, war besänftigend.
Überhaupt hatten alle möglichen Leute alles Mögliche bei ihm vergessen. Evelyn zum Beispiel einen blassrosa Lippenstift der Marke Guerlain. Wie lange war das schon her, und noch immer lag er an derselben Stelle im Badezimmer. Er roch daran, ein ekelhaft süßlicher Geruch. Kaum zu glauben, dass er einmal einen Mund mit dem da drauf geküsst hatte. Sie liebte blasse Farben. Rosa Kaschmirpullover, bleiche Strumpfhosen, die ihre Beine wie abgestorben aussehen ließen, wie nach drei Wochen im Wasser. Oder würden sie dann grünlich sein?
Feinstrumpfhose mit Zwickel, Maschensicherung an Fuß- und Slipteil, Größe 40 bis 44. Er hatte die Verpackung in seinem Papierkorb gefunden, inmitten der verworfenen Manuskriptseiten, und sie unerklärlicherweise auf den Schreibtisch neben die Kugelschreiber gelegt. Evelyn war sehr dünn, aber groß, fast so groß wie er selbst, nur deshalb trug sie Größe 40 bis 44. Eigentlich mochte er dünne Frauen nicht, vielleicht hatte es deshalb nicht geklappt zwischen ihnen.
In seinem Schlafzimmer hingen zwei Bilder von Botero, Reproduktionen natürlich. Auf einem Flohmarkt in Umbrien hatte er einmal lange vor einer Botero-Kopie gestanden und sich dann doch nicht zum Kauf durchringen können. Schade, ein echtes Ölgemälde, auch wenn nur eine Kopie, wäre gewiss sinnlicher als eine Reproduktion. Um wie viel leuchtender würden die Schenkel seiner fetten Nackten glitzern, prall zum Hineinbeißen. Bereit für ihn. Leicht geöffnet und dazwischen das schwarze Dickicht, mit einer kleineren doppelten Wiederholung unter den Achseln. Die jungen Frauen heutzutage enthaaren sich die Muschi, er hatte es in der Sauna gesehen. Manche sind vollkommen nackt wie kleine Mädchen. Andere haben von der Spalte hochlaufend einen dunklen Haarstrich stehengelassen wie eine Frisur. Welche Mühe muss es
Weitere Kostenlose Bücher