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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
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hat?», fragt die Anwältin.
    «Na, sag’s mir.» – «‹Von mir aus lassen wir uns eben scheiden. Wenn es das ist, was sie will, bitte schön.› Es tut mir leid, dass ich dir nichts anderes berichten kann.»
    Ruth schluckt. Die Antwort ist trotz ihrer Ambivalenz eindeutig. Hauptsache, sie lässt ihn in Ruhe. «Gut», sagt sie nach einer langen Pause. «Dann lassen wir uns eben scheiden. Kannst du uns dabei behilflich sein?»
    «Na klar. Wegen der Rechtslage ist es einfacher, ihr erledigt das in Wien, wo ihr geheiratet habt. Dafür wird er sich halt Zeit nehmen müssen.»

    Ruth kehrt nach Amsterdam zurück und erlebt eine Phase der Euphorie. Endlich ist sie dabei, das Heft selbst in die Hand zu nehmen, ist nicht mehr Opfer. Bald wird alles besser, davon ist sie überzeugt. Sie wird sich nicht mehr schämen müssen für ihre peinliche Abhängigkeit. Sie wird frei sein. Sie wird eine andere Lösung gefunden haben als Vera. Sie wird wieder leben.
    Ruth will schon jetzt damit beginnen, nimmt Bekanntschaften wieder auf.
    Michaël ist vollends verstummt, dabei gäbe es gerade jetzt eine Menge zu besprechen. Wie sollen ihre Sachen aufgeteilt werden? Will er in der Wohnung bleiben, die er kaum noch benutzt? Kann er sie sich alleine leisten? Sein Schweigen nimmt Ruth den Druck, auf seinen Anruf zu warten. Sie geht ins Kino und arbeitet liegengebliebene Aufträge ab.
    Im November ist sie wieder in Wien. Vor der verschlossenen Tür der Notarin Holzbänke, der schmale, lange Korridor mit den vielen Türen von einer hohen Decke überwölbt. Eine einschüchternde Atmosphäre. Ruth sitzt aufrecht neben der Anwältin, ihre Knie berühren sich, sie ist Ruths Schutzschild. Übertrieben fröhlich unterhalten sie sich miteinander. Michaël trifft nach ihnen ein, die Laptoptasche umgehängt wie immer, würdigt sie keines Blicks und verdrückt sich in den hinteren Teil des Ganges. Die Tür geht auf, sie werden hineingebeten. Ruth setzt sich neben die Anwältin, Michaël nimmt links von Ruth Platz. Er schlägt die Beine mit den dicken Oberschenkeln so verdreht übereinander, sodass er ihr fast den Rücken zeigt. Es ist eine einvernehmliche Scheidung, sie haben keinen Besitz, den es aufzuteilen gilt. Immer noch klingt ihr seine Antwort im Ohr: Eigentlich will ich mich nicht scheiden lassen. Ist alles nur ein Irrtum? Hat sie voreilig gehandelt? Hätte sie warten sollen, bis der Krieg zu Ende ist? Ist sie zu ungeduldig gewesen? Hätten sie bei mehr Entgegenkommen doch noch eine Chance gehabt? Jetzt ist es zu spät. Zu dritt sitzen sie in der Amtsstube vor einem wuchtigen Schreibtisch, die Stempelmarken kleben schon auf dem Dokument. Es ist wie bei der Hochzeit, die Notarin fragt sie einzeln, ob sie entschlossen sind, sich zu trennen, und sie antworten mit Ja. Ruths Ja ist klar und deutlich. Michaëls Ja klingt seltsam verdruckst, wie ein Ja, das ihm abgerungen wird.
    Sie verabschieden sich von der Notarin, verlassen das Büro. Michaël nickt der Anwältin zu, murmelt etwas und stürzt die Treppe hinunter. Das war’s.

    Ruth hat ein paar Freundinnen zu einem Scheidungsessen in ein Restaurant eingeladen, Barbara und Erika sind auch dabei. Erika überreicht ihr ein Hochzeitssträußchen. Die Runde ist ausgelassen, alle bemühen sich, gute Stimmung zu verbreiten und die Vorteile ihres künftigen Single-Lebens herauszustreichen. Ruth lacht lauter als alle anderen. Es ist schön, Freundinnen zu haben. Sie wird nach Wien zurückkehren.
    «Er hat mir die Schuld an der Scheidung gegeben», flüstert ihr die Anwältin inmitten des Gelächters ins Ohr. «Weil ich es war, die ihn angerufen hat, um es ihm zu sagen.»

9
    Das Schlimmste am Umziehen ist das Packen. Zwar ist der Aufbruch aufregend und belebend, der hoffnungsfrohe Blick nach vorn. Doch das Berühren der Gegenstände aus der Vergangenheit führt notgedrungen zu einem Wühlen in Erinnerungen. Am besten wäre es, alles zurückzulassen, die Wohnungstür hinter sich zu schließen und mit nichts als einer mit dem Allernötigsten gefüllten Reisetasche das Weite zu suchen. Aber das bringt Ruth nicht über sich.
    Ihr wertvollster Besitz ist das Werkzeug. Es hilft ihr, sich selbst und die Welt um sie herum zu vergessen. Die Konzentration auf die Arbeit an einem Werkstück wirkt wie eine Meditation. Und dann dieser Augenblick reinen Glücks, wenn das Lot in die Ritze fließt und die unansehnlichen Einzelteile mit einem Schlag ein Ganzes werden. Liebevoll wickelt Ruth alles ein, bestreicht manche

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