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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
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dem die Eltern vertrieben wurden, von einer Mutter großgezogen, die in den ersten Jahren nach der Rückkehr alle Österreicher mied – aus berechtigter Angst, sie könnten sich als Nazis entpuppen –, warum sollte Ruth ein solches Land, eine solche Stadt lieben? Ihre ganze Familie war wie getrieben gereist, sparte weder auf ein Auto noch auf einen Fernsehapparat, immer nur auf die Urlaubsreise. Lieber schauten sie sich das Ausland mit ihren eigenen fünf Sinnen an, als bequem von der Couch aus im Fernsehen. Kaum war Ruth alt genug, um allein zu verreisen, setzte sie diese Tradition fort. Schon als Kind hatte sie mit Begeisterung Fremdsprachen gelernt, während die anderen in Tanzlokale gingen. Ohne den expliziten Auftrag führte sie aus, was ihre Eltern für sie vorsahen: Gewappnet sollte sie sein, um jederzeit fortgehen zu können, ausgerüstet, um sich überall in der Welt zurechtzufinden. Das Fremde hat Ruth nie Angst gemacht. Ihre Heimatlosigkeit hat sie nie bedauert, sondern als Freiheit erlebt. Bei Heike ist es nicht anders, die Kinder von Schoa-Überlebenden sind rastlos und frei.
    Die ersten Männer, in die Ruth sich verliebte, waren allesamt Ausländer, die irgendwann abreisten und sie angeschlagen zurückließen. Erst in den siebziger Jahren, als sie sich in der Frauenbewegung engagierte, fasste sie in ihrem sogenannten Heimatland Fuß und begann sich mit einheimischen Männern einzulassen.
    Ruths Freundinnen sind, wie gesagt, alle noch in Wien und unterstützen sie, so gut sie können. Sie hat es besser als Vera. Ruth redet und redet und redet im Kreis, bis sie es selbst kaum noch ertragen kann. Die Freundinnen hören ihr weiter geduldig zu. Und immer wieder sieht sie sich gezwungen, Michaël vor ihnen in Schutz zu nehmen.
    «Was ist mein Liebesleid gegen das, was er leistet?»
    «Mach dir nichts vor», fällt ihr Barbara ins Wort. «Er hat ein Helfersyndrom, das ist eine narzisstische Störung. Mit Altruismus hat das nichts zu tun. Im Gegenteil. Die von ihm abhängigen Flüchtlinge verschaffen ihm ein Gefühl von Grandiosität. Er ist gut und gleichzeitig mächtig – das ist ein wunderbares Gefühl.»
    Barbara ist Psychologin und arbeitet in einem Frauenberatungszentrum, natürlich ist sie parteiisch. Ruth hält viel von ihr, schon mehrere Male hat sie sich an sie gewandt, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Barbara und ihre Freundin leben in einer hellen Wohnung im dritten Stock eines Altbaus, mit Dielen so breit wie ein Schritt. Als Gastgeberinnen sind sie unnachahmlich, Kerzen, feines Geschirr, Stoffservietten, Wein, vegetarische Gerichte vom Feinsten.
    Barbara und Erika haben Heike und Ruth zum Essen eingeladen, und Ruth genießt es, im Mittelpunkt zu stehen. Alle beschäftigen sich mit ihr. Schon bald zwei Jahrzehnte sind Barbara und Erika ein Paar, beide Psychologinnen. Sie scheinen perfekt aufeinander eingespielt. Jedes Mal, wenn Ruth mit ihnen zusammen ist, bedauert sie, sich zu Männern hingezogen zu fühlen. Schon mehrmals hat sie versucht, sich in eine Frau zu verlieben, es wäre so viel praktischer. Am Sex fand sie durchaus Gefallen, die unbehaarten, glatten Körper, die Rundungen der Brüste, die Ähnlichkeit des Empfindens, eine Vertrautheit, wie sie mit einem Mann niemals herstellbar ist. Doch so richtig verliebt hat sich Ruth immer nur in Männer. Männer sind ihr fremd, und gerade das zieht sie an, sie kann nicht anders. Ruth stellt sich Barbara und Erika im Bett vor, die eine dunkelhaarig mit einem gewaltigen Gesäß, die andere blond, schmal und hochgewachsen. Barbaras unausgewogene Proportionen scheinen weder Erika noch sie selbst zu stören. Selbstbewusst trägt sie ihren Hintern zur Schau, betont ihn sogar noch mit ihrer Kleidung. Ruth fühlt sich an die Afrikanerinnen in Mosambik erinnert, die ihr ausladendes Hinterteil mit Tüchern schmückten, auf dem das Abbild des damaligen Regierungschefs Samora Machel bei jedem Schritt hin und her wogte.
    Ruth fühlt sich in ihrem Köper nicht zu Hause, nur selten bewegt sie sich unbefangen. Mit denselben kritischen Augen hat sie den allmählich dicker werdenden Michaël betrachtet. Vielleicht hatte er einfach genug davon, wollte endlich er selbst sein. Fragt sich nur, wer er selbst ist.
    «Was ist ein Helfersyndrom?», fragt Ruth. «Michaël hat einmal ein Interview gegeben, in dem er gerade das heftig in Abrede stellte.»
    «Na, logisch gibt er’s nicht zu. Wahrscheinlich weiß er gar nicht, was das ist, weil er sich weigert, sich damit

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