Mein Erzengel (German Edition)
Lange wollte er wegbleiben, vielleicht für immer. Und nahm seine Umgebung mit einem Mal in einem anderen Licht wahr. Sollte er jemals wiederkommen, würde der wilde Wein an der Ziegelmauer gegenüber vielleicht schon die Höhe seines Fensters erreicht haben. Sein Fenster! Es würde nicht mehr sein Fenster sein. Statt es zu reparieren, hatte er im Sommer einfach ein Kissen hineingelegt, damit es nicht bei jedem Luftzug zuschlug. Ein blaues Kissen. Vor langer Zeit hatte er mit Marianne auf diesem Kissen gelegen. Ein ganzes Leben war das her, Marianne längst tot. Von Marianne übrig geblieben war auch die gelbe Gießkanne, sie stand immer noch an derselben Stelle. Kann es sein, dass er sie seither nie mehr zur Hand genommen hat? Sie war von einer dicken Staubschicht überzogen. Als Marianne starb, hatte er aufgehört, die Blumen zu gießen, ließ auch sie sterben. Noch lange standen sie als graubraune Gerippe in ihrer geborstenen Erde, bis er sich endlich entschloss, sie samt den Töpfen in den Müll zu werfen.
Das Packen war in dieser Sommerhitze eine schweißtreibende Beschäftigung. Er stank. Nachdem er das Bild in die Folie gewickelt hatte, würde er duschen. Er starrte auf die leeren Kleiderbügel, Zähne im Maul des Kleiderschranks, und versuchte auf dem Boden sitzend mit Zeigefinger und Daumen die Luftpölsterchen der Folie zum Platzen zu bringen. Das Verpackungsmaterial war eindeutig stabiler geworden, er konnte sich erinnern, wie die Noppen früher mit einem Knall aufplatzten. Er schloss die Augen und lauschte auf den Straßenverkehr, der nur stark gedämpft über zwei Innenhöfe zu ihm drang. Die Welt stand still. Es gab kein Zurück. Er schloss die Augen, roch seinen Schweiß und horchte auf ein Flugzeug, das zum Landen ansetzte. Wohin würde es ihn verschlagen?
NORA
Er hatte nichts mehr zu befürchten von ihr, denn sie war schon lange unter der Erde. So war ihm wenigstens berichtet worden, am Begräbnis hatte er nicht teilnehmen dürfen. Nicht dass ihm daran gelegen gewesen wäre, aber als Mörder wollte er sich auch nicht hinstellen lassen. Feucht und klebrig war ihre Haut gewesen, die Wangen tränenverschmiert. Immer hatte sie geweint. Je ekelhafter ihm ihre Ausdünstungen wurden, ja ihre bloße Anwesenheit im gemeinsamen Haus, ihre Geräusche hinter der verschlossenen Klotür, die sich durch den Spalt zwischen Tür und Fußboden zwängten, desto mehr klammerte sie sich an ihn. Dann begann sie, sich die Lippen anzumalen. Nora, die ihre dunklen Augen stets geheimnisvoll schwarz geschminkt hatte. Zu ihren modrigen Umarmungen kam der süßliche Geruch der Lippenpomade. Nach fettigem Essen zerrannen die roten Reste in die Fältchen um ihren Mund wie Wasserläufe im Sand. Als er auch ihren Anblick nicht länger ertrug, ganz zu schweigen von den Berührungen, machte er sich aus dem Staub. Nora verlasse das Haus nicht mehr, sagten die Freunde, gehe nicht ans Telefon, er solle sich um sie kümmern. Und dann war sie eines Tages tot, Nachbarn hatten sie in der Scheune am Strick gefunden. Ein ekelhafter Tod.
Vera. Da ist sie wieder. Ruth wird aus diesen Texten nicht schlau, kann in ihnen den prinzipientreuen Ideologen nicht erkennen, den sie geheiratet hat. Die meisten dieser Geschichten tragen Spuren von Ekel vor Frauen, der in Widerspruch steht zu Michaëls bombastischer Solidarität mit dem weiblichen Geschlecht. Der Mann, der da schreibt, ist unendlich einsam. Der Michaël, den Ruth kennt, war eher optimistisch, forsch, zupackend. Vor allem schien er niemals zu zweifeln, schon gar nicht an sich selbst. Hat er den Zweifel so gut überspielt? Jahrelang? Wovon sein Roman handelte, den er, in einem Akt der Selbstbestrafung, stellt sie sich vor, verbrannt hat, weiß sie nicht. Er sprach nicht darüber. Ruth spürte, wenn sie ihn erwähnte, danach fragte, nur einen großen Schmerz, eine Kränkung.
Die Texte in diesen Kladden scheinen Fingerübungen zu sein. Stammen sie alle aus der Zeit vor ihrer Begegnung? Außer gelegentlichen Kommentaren für linke Zeitschriften hat Michaël während ihres Zusammenlebens ihres Wissens nichts geschrieben. Er müsse Geld verdienen, zum Schreiben würde er sich abschotten müssen, von der Welt und auch von ihr, das wolle er ihr nicht zumuten.
In der zweiten Kladde findet sich endlich eine Tagebucheintragung aus ihrer gemeinsamen Wiener Zeit. Michaël hielt sich damals in den Niederlanden auf, Ruth kann sich noch gut erinnern. Es waren die ersten Monate ihrer Ehe, als die
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