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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
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aus den Wellen und schlenderte sogleich leise vor sich hin summend die Straße entlang, auf hohen Plateausohlen trippelnd und immer wieder umknickend, den Bordcase hinter sich her ziehend, der auf dem Kopfsteinpflaster allerhand unharmonisches Gepolter erzeugte. Sie waren unterwegs zu einem Wochenende in Lissabon, und ihre Aufmachung, die Schuhe, das enge Kleid mit dem bis zum Oberschenkel reichenden Schlitz, ließen Böses ahnen. Hatte sie vor, die Nächte in Bars zu verbringen? Wusste sie nicht, dass die Straßen Lissabons bergauf und entsprechend auch wieder bergab führten? Mit einem Straßenbelag, gegen den Berliner Kopfsteinpflaster gar nichts war. Und dann auch noch dieses Summen. Verstohlen blickte er sich um. Waren andere Leute schon auf sie aufmerksam geworden? Peinlicher noch als ihr Summen war ihr schwarzer Strohhut, der ihr Gesicht beschattete, sodass ihre Geräusche unter der breiten Krempe hervorquollen. Im Flugzeug dann zog sie aus der Handtasche ein Paar Leggings, die sie sich vor aller Augen anzog und dabei ihr hautenges Kleid bis über die Hüften hochschob. Sie hatte perfekte Beine, das schon, und wenn sie nicht fortgesetzt gesummt hätte, wäre es vielleicht niemandem aufgefallen, denn sie beherrschte die Kunst des sich An- und Entkleidens mit großer Raffinesse. Vielleicht hielten die Leute sie für verrückt, er begann ja selbst schon an ihrem Verstand zu zweifeln. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, ein Wochenende mit seiner Psychoanalytikerin zu verbringen. Es war keine gute Idee gewesen, das wusste er inzwischen, jetzt, da es zu spät war. Noch genoss er die Wärme der milden Herbstsonne, eingewickelt in eine Wolldecke auf der Terrasse seines Hauses. Es war sehr still, aus dieser Höhe waren die Autos kaum zu hören. Es konnte nicht mehr lange dauern. Er hätte so gern geschlafen, sich zurückgeträumt in die Zeit davor. Vor Lissabon, vor dem nicht enden wollenden Summen. Doch anstatt zu schlafen, lauschte er auf Schritte, die nicht kamen. Noch nicht kamen. Die Nachbarn spielten «Besame mucho» , die Klänge schwangen sich zu ihm her über die Wand aus Milchglas, die ihre Terrassen voneinander trennte. So weit war es erst gar nicht gekommen in Lissabon. Hat deine Mutter vielleicht gesummt?, fragte sie ihn mit ihrer hohen Stimme. Er hatte nichts anderes getan als sie um einen Augenblick der Stille angefleht. Ihr magerer Hals lag zwischen seinen Händen wie ein zitternder Vogel. Dann war Ruhe. Wie in der kurzen Pause vor dem Auflegen der nächsten Schallplatte drüben bei den Nachbarn. Bald würden sie ihn holen kommen.
    VERLASSEN
    Was er im Badezimmerspiegel sah, gefiel ihm nicht. Der Dreitagebart, der mit weißem Hemd und Anzug – selbstverständlich ohne Krawatte – cool aussah, machte ihn jetzt alt. Plötzlich fühlte er sich einsam. Er liebte es, an der Seite einer Frau aufzuwachen und die Mischung aus Parfüm und Nachtschweiß einzuatmen. Er liebte den Rausch der Macht, wenn ihr schlaftrunkener Körper unter seinen Händen zu leben begann. Zuerst widerwillig, weil noch schwer vom Schlaf, dann immer williger. Von der Seite betrachtet zeichnete sich im Spiegel ein leichter Bauchansatz ab. Im Abfluss der Badewanne klebten ihre Haare. Sie würde nicht wiederkommen. Wenn sie sich einmal entschieden hatte, war sie konsequent. Ohne zu duschen, schlüpfte er in die Kleider vom Vortag. Im Zimmer war es mit einem Mal wieder dunkel. Es nieselte draußen. Vergeblich suchte er nach dem Schirm, vielleicht hatte sie ihn mitgenommen.
    Auf der Straße zog er den Trenchcoat über den Kopf. Ein vorbeifahrendes Auto spritzte ihm Wasser bis an die Knie. Er steckte die Hand in die Hosentasche. Das Kleingeld, das gestern Nacht noch darin gewesen, war wohl herausgefallen, als sie sich gegenseitig die Kleider vom Leib rissen. Jetzt konnte er sich nicht einmal einen Kaffee kaufen.
    WEGGEHEN
    Nun ja, er tat es ununterbrochen. Keine zwei Wochen war er zu Hause, schon ging es wieder los. Die Flüge waren so billig geworden, die Welt lag ihm zu Füßen. Er hatte den Überblick verloren, welche Länder er im vergangenen Jahr bereist hatte. Eigentlich war ihm egal, wohin er reiste. Er liebte den Rausch der Ankunft an einem neuen Ort. Orientierungslosigkeit in einer fremden Stadt. Die Sprache nicht verstehen. Die Schrift nicht lesen können. Zurückgeworfen sein auf sich selbst. Aufregung. Einige Tage lang den Puls wieder spüren. Doch das Weggehen, das er sich jetzt vorgenommen hatte, war anders.

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