Mein Erzengel (German Edition)
Sehnsucht unermesslich war.
AMSTERDAM, 10. MÄRZ 1987
Am Telefon war ich wieder zu aufgeregt und nervös, unfähig, das Eigentliche auch nur anzusprechen, geschweige denn auszusprechen. Ich bin froh, weil ich Ruth erreicht habe, und traurig, weil ich gerade jetzt, nach ihrer anstrengenden Arbeitswoche, nicht bei ihr sein kann, um sie zu pflegen, zu massieren, zu wärmen und zu streicheln. Und ich bin traurig, weil mir fehlt, was ich von ihr bekomme: die tägliche Auseinandersetzung, die Spiegelung und den Widerspruch, ihre Unterstützung und ihren Zweifel, ihre Wärme und Nähe, ihre Zärtlichkeit und Schönheit. Das Leben mit Ruth, unsere Einheit von Arbeit und Leben, von öffentlich und privat, von Politik und Intimität – ich habe es mir immer erträumt, aber selbst im Traum nie geglaubt, dass es einmal Wirklichkeit werden könnte.
Das zu lesen tut weh. Was ist nur aus dieser großen Liebe geworden! Ruth ist aber auch überrascht. War sie anfangs tatsächlich noch zu Widerspruch fähig? Das müssen die letzten Reste gewesen sein. Dann löste die Frau, die sie einst gewesen war, sich auf in den Schatten seiner überragenden Persönlichkeit.
An anderer Stelle finden sich die für Michaël so typischen Ausführungen zum Geschlechterverrat.
Geschlechterverrat beginnt erst dort, wo der Mann die Notwendigkeit begreift, diese an sich selbst erprobt und praktizierend propagiert. Der politische Beitrag des Verräters ist nicht die Partizipation an der avantgardistischen Organisation der um ihre Befreiung kämpfenden Frauen, er ist ausschließlich die Denunziation männlicher Präpotenz, das Sichtbarmachen struktureller männlicher Machtausübung. Der Verräter ist Spion, gleichzeitig antizipiert er einen männlichen Lebenszusammenhang, der frei von Omnipotenzphantasien das historische Bild der Männlichkeit überwindet. Politisch wird der Verräter dort, wo er seinen Verrat nicht gegenüber Frauen demonstriert, sondern gegenüber den an ihrer Macht festhaltenden Männern. Es gilt zu begreifen, dass die Kumpanei der Männer, planetenweit organisiert und ideologisch abgesichert, in ihrer Destruktivität auch männliche Lebenszusammenhänge zerstört. Selbst wer sich nicht selbst an der aggressiv-präpotenten Ausübung männlicher Macht aktiv beteiligt, ist Täter, dies auch dann, wenn seine Passivität von phallischer Omnipotenz attackiert wird. Wer nicht bereit ist, seinen Ausstieg aus der Männerwelt, also seinen Verrat, zu manifestieren, wird gleichzeitig Opfer und Täter. Der Softi ist kein Verräter, er ist nur ein avantgardistischer Vertreter phallischer Omnipotenz, vergleichbar mit jenen multinationalen Konzernen in Südafrika, die begreifen, dass das System der Apartheid die realen Möglichkeiten ihrer Machtentfaltung anachronistisch behindert. Der Versuch, egalitäre Praxis in dieser Welt einzufordern, radikalisiert in Richtung Verrat, doch Vorsicht, die Theoretiker des Egalitarismus haben bereits vor zweihundert Jahren ihre Glaubwürdigkeit verspielt: Frauen durften zwar aufs Schafott, nicht aber auf die Redebühne steigen.
Das ist der harte Tobak, den Ruth von ihm gewöhnt ist. Dabei ist keineswegs Unsinn, was er da geschrieben hat, wenn nur dieser apodiktische Stil nicht wäre. Und wenn sein tatsächliches Verhalten nicht diese schöne Theorie Lügen gestraft hätte. Wie oft er das Wort Omnipotenz verwendet! In seiner Funktion als Retter kann er seine eigene unterdrückte Sehnsucht nach Omnipotenz zur vollen Entfaltung bringen, wie Barbara so treffend beobachtet hat. Ob ihm das jemals bewusst geworden ist?
So viele Kleider. In den vergangenen zwei Jahren hat sie viel Neues gekauft, später als Betäubung gegen den Verlust von Michaël, anfangs, weil sie, eingesponnen in ihre Zweisamkeit, gemeinsam kochten, sich immer kompliziertere Speisenfolgen ausdachten, in Kochbüchern nach neuen Rezepten suchten. Michaël hatte um einiges mehr zugenommen als sie, er war darin geübt. Im Lauf seines Lebens war er mehrere Male dick und dann wieder dünn geworden. Der Yo-Yo-Effekt, kann man in den Frauenzeitschriften nachlesen. Seine Gewichtszunahme hätte sie nachdenklich machen müssen. Am Anfang ihrer Liebe hatte er es ihr erklärt, aber es war ihr wieder entfallen: Wie gegen die Frauen vor ihr, die ihm lästig geworden waren, schottete er sich auch gegen Ruth Schicht um Schicht ab. Und mit dem Verlust seines positiven Körpergefühls vernachlässigte er auch seine Kleidung, wie Kleidung in den Niederlanden
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