Mein Erzengel (German Edition)
ohnehin nur eine untergeordnete Rolle spielt.
Ruth hingegen war in Wien zu einer Ästhetin erzogen worden. Bei jedem Wechsel der Jahreszeit nähte ihr die Mutter neue Kleider, das gemeinsame Auswählen der Burda-Schnittmuster und des passenden Stoffs gehören zu den schönsten Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend. Beim Nähen der Kleider genoss Ruth auch die einzigen mütterlichen Berührungen, an die sie sich erinnern kann. Bei der Anprobe steckte die Mutter die Brustabnäher ab, maß ihre Taille, strich eine Falte glatt. Ruth spürte die Hände der Mutter an ihrem Mädchenkörper. Und dabei unterhielten sie sich über Schönheit, Stoffe und Männer.
«Werde ich schöner sein, wenn ich älter bin?», fragte Ruth die Mutter mit vierzehn.
«Ja, Puppe, du wirst immer schöner. Bis Mitte dreißig wirst du von Jahr zu Jahr schöner werden.»
«Ich finde, Frauen sind schöner als Männer. Schöne Männer kann ich nirgendwo sehen.»
«Warte noch ein paar Jahre, Puppe, dann wirst du sie schon sehen. Es gibt sie. Als ich auf der Donau von Wien nach Varna gefahren bin, waren auf dem Schiff einige braungebrannte Offiziere in weißen Uniformen, die waren schön. Und sie haben mir alle den Hof gemacht.»
Das klang interessant. Ruth stellte sich die Mutter inmitten dieser Männer in Weiß vor, auch sie selbst in weißen Leinenshorts, dazu, weil sie so klein war, Sandalen mit hohen Absätzen. Um den Hals die Kette aus roten Korallenzweigen, die sie Ruth später schenken sollte. Irgendwann ist sie gerissen, und die Glieder liegen immer noch in einer Tonschale und warten darauf, aufgefädelt zu werden. Sie muss daran denken, sich endlich die japanische Seide dafür zu besorgen.
Gekonnt stöckelte Ruth in den von der Mutter geschneiderten Kleidern und mehreren Lagen Petticoats auf Schuhen, die ihr die Mutter während ihrer Urlaubsreisen in Italien kaufte, am liebsten in dem Eckgeschäft an der Fontana di Trevi in Rom. Oft waren sie eine halbe Nummer zu klein, weil es damals in Italien noch schwer war, die Schuhgrößen der nordeuropäischen Frauen zu bekommen. (Interessant, wie auch im Süden die Füße der Frauen im Laufe der Jahrzehnte größer geworden sind.) In Italien schämte sich Ruth für ihre großen Füße und gab schon allein deswegen der Verkäuferin eine falsche Größe an.
Außer den schweißtreibenden Nylonpetticoats der fünfziger Jahre trug sie nie Kunststoff am Körper, immer nur Baumwolle und Wollstoffe, über die die Hand mit Vergnügen glitt. Anfangs hatte sie Michaël ab und zu etwas zum Anziehen gekauft, einen Kaschmirmantel oder ein zu seinen blassen Augen passendes Hemd, doch als er immer mehr zunahm und das Begehren zwischen ihnen versiegte, ließ sie es bleiben und beschränkte sich auf sich selbst. Ihr verschwenderischer Umgang mit Geld war ihr angesichts von Michaëls geringem Verdienst peinlich, sodass sie ihm Neuanschaffungen gar nicht erst zeigte. Wenn sie es dann eines Tages doch wagte, den kostbaren Seidenschal anzulegen, konnte sie sicher sein, dass es ihm nicht auffallen würde.
Nachdem die Männer von der Spedition die Kartons mit Büchern, Kleidern und Geschirr mühsam die steile, schmale Treppe hinuntergewuchtet hatten und Michaëls Sachen verloren herumstanden, die Bücherregale halb leer, lief Ruth hinunter auf die Straße, um im Blumenladen an der Ecke einen Schwung roter Rosen zu kaufen. Sie verstreute sie in der ganzen Wohnung: auf das Doppelbett, die Couch vor dem Fernseher und dann den ganzen Flur entlang bis zur Eingangstür. Das Porträt von sich mit dem wie demonstrativ zur Schau gestellten Ehering ließ sie unter einer Rose auf dem Boden liegen.
10
Am Telefon Amira. Seit Amiras Rückkehr in ihre Heimatstadt und Ruths Scheidung haben sie wieder mehr Kontakt. Es ist für Ruth jetzt nicht mehr schmerzhaft, sich im Gespräch mit Michaëls einstiger Sekretärin an die qualvolle Zeit der wachsenden Entfremdung zu erinnern.
Schwer genug ist es gewesen, aber sie hat ihn hinter sich gebracht, lange Jahre Therapie, das Übliche. Jede Einzelheit mehrfach durchgekaut, bis ihr die ganze Geschichte selbst zum Hals heraushing. In dieser Zeit lebte Ruth asketisch, weder Männer noch Frauen, kein Sex. Ihre Abhängigkeit von Michaël war ebenso eine Sucht wie sein Helfersyndrom. Eine neue Beziehung, auch nur eine Affäre, hätten sie erneut in einen Strudel hineinsaugen können. Was in der Therapie passierte, war eine Art Entzug, mit Rückfällen und Verzweiflungsattacken. Kaum hatte
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