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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
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sie sich erholt und begonnen, an ihrem neuen, unabhängigen Leben Gefallen zu finden, stürzte sie wieder ab und vermeinte, ohne ein klärendes Gespräch mit Michaël auf der Stelle sterben zu müssen. Sie rief an oder schrieb eine Mail und schämte sich hinterher. Immer wieder verkroch sie sich und war für andere unansprechbar. Dann tauchte sie wieder auf, ein ständiges Auf und Ab. Nur wenn sie arbeitete, verschwand das Gefühl, sich in einem Ausnahmezustand zu befinden. Die knifflige Arbeit an der Fassung eines winzigen Steins und das Löten eines feinen Silberdrahtgeflechts verlangten eine geistige und körperliche Konzentration, die jeden anderen Gedanken ausschloss. Wenn Ruth die fertige Arbeit – im Schwefelsäurebad von den Spuren der Flamme gereinigt, unter fließendem Wasser gebürstet und mit der Maschine auf Hochglanz poliert – auf eine Unterlage aus schwarzem Samt legte, um sie zu fotografieren, erlebte sie einen Augenblick des Glücks. Gewiss wäre ihre Mutter stolz auf sie gewesen, wenn schon Michaël nichts von ihr wissen wollte. Der Gedanke, dass sie seine Liebe verloren hatte, ließ ihre Trauer bisweilen in quälende Wut umschlagen. Da hätte sie mit den Fäusten gegen die Wand trommeln können, um diese Liebe herbeizuzwingen, und fühlte sich wie das dreijährige Kind, das sich mitten auf der Straße schreiend zu Boden warf, während die Mutter ihren Weg fortsetzte, ohne es zu beachten.
    Um sich zu beruhigen, schrieb die erwachsene Ruth Briefe, in denen sie im imaginären Dialog mit Michaël versuchte, für sich selbst zu klären, warum sie von ihm nicht loskam. Er habe ihr, schrieb sie, deren Leben stets vom Gefühl bestimmt war, nicht dazuzugehören, für eine kurze Zeit Zugehörigkeit gegeben. Ihr Feminismus, von dem Michaël annahm, er würde sie vor Autonomieverlust schützen, sei bloß eine äußere Hülle gewesen, die ihr vorübergehend einen Ort in der Welt zuwies. In Wirklichkeit aber lassen sich ihre Ängste und Unsicherheiten mit einem Foto zusammenfassen, das in Ruths Schlafzimmer an der Wand hängt: Auf dem Kopf ein Hütchen, die Handtasche auf die Knie gepresst, sitzt ihre Großmutter in einem Kleid mit Spitzenkragen erwartungsvoll und ergeben zugleich in einem menschenleeren Zug mit eleganten Ledersitzen und fährt – in Ruths beharrlich wiederkehrender Phantasie – nach Treblinka. Michaël hätte das verstehen müssen, schrieb sie, er, der versprochen hatte, sie zu schützen. Als Frau und als Jüdin. Den Brief schickte sie wie alle anderen nie ab. Aber das spielte keine Rolle.
    Nachdem sie sich nach einigen Jahren Therapie gefangen hatte, machte sie eine erstaunliche Erfahrung: Was sie stets für eine typisch männliche Eigenschaft gehalten hatte, entdeckte sie bei sich selbst. Nacheinander verliebten sich zwei Frauen in sie, sie selbst hatte die Begegnungen initiiert. Die erste war Musikerin und gefiel Ruth sehr. So vieles verband sie mit ihr, Ruth träumte schon von einer Beziehung. Doch als die Frau nach gerade einer Nacht auf der Straße ihre Hand ergriff, geriet sie in Panik und hatte nur noch einen Wunsch: weglaufen. Sie versuchten es noch einige Male, doch die Anhänglichkeit der jungen Komponistin schnürte Ruth die Kehle zu. Sie erlebte sich als kalt und abweisend, unfähig zu erklären, was mit ihr los war. Und sie wusste es ja auch wirklich nicht. Überrascht stellte sie fest, dass die Tränen der Frau kein Mitgefühl in ihr auslösten, sondern Wut. «Bitte, lass mich in Ruh», war alles, was sie sagen konnte.
    Dasselbe wiederholte sich schon kurz darauf bei der nächsten. Was war nur los mit ihr? Sie kam sich vor wie Dr.   Jekyll und Mr.   Hyde. War sie in Michaëls Haut geschlüpft?
    Die Erfahrung, wie lästig Liebe sein kann, ließ sie ihn in einem milderen Licht sehen. Wie unerträglich ihre Liebe für ihn gewesen sein musste! Wenn die Verzweiflung grenzenlos wurde, musste sie ihn anrufen in solchen Momenten, konnte erst auflegen, wenn er sie so sehr gedemütigt hatte, dass sie sich selbst hasste. So muss sich ein Alkoholiker während der Entzugsphase fühlen, nur ein Glas gib mir, einen einzigen Schluck! Nur einmal noch auf den Wellen seiner tiefen Stimme schwimmen, und dann ist alles gut. Nur einmal noch, koste es, was es wolle. Also rief sie an. Wenn er sich weigerte, mit ihr zu sprechen, rief sie wieder an, und noch einmal und noch einmal und noch einmal. Erst wenn er eine Frau ans Telefon schickte, seine Sekretärin, seine Freundin, die Tochter seiner

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