Mein Erzengel (German Edition)
Freundin oder auch nur die Putzfrau, beruhigte sich Ruth. Die Stimme einer Frau brachte sie zur Räson.
«Tut es dir leid um die Zeit mit Michaël?», wird sie von ihren Freundinnen gefragt. Zugegeben, ihre Chancen auf dem Beziehungsmarkt haben sich dank der Ehe mit ihm und der langen Rekonvaleszenz erheblich verschlechtert. Er ist noch relativ jung und vor allem ein Mann, sie geht auf die sechzig zu. Was kann sie noch an Liebe erwarten? Ab und zu einen Liebhaber vielleicht, der seinen Mutterkomplex abarbeiten oder sich nicht binden will. Aber tut es ihr wirklich leid um die Zeit? Eine unsinnige Frage. Es musste sein.
Immer wieder kommen Amira und Ruth in ihren gelegentlichen Telefongesprächen auf Michaël. Als es ruhiger wurde in ihrer Heimat, erzählt Amira, wollte sie zurück zu ihrem Mann, der geblieben war, um seine Stadt zu verteidigen, was Michaël veranlasst hatte, ihn als Faschisten zu beschimpfen. Nachdem Amira diesen Wunsch geäußert hatte, brach Michaël jeden persönlichen Kontakt zu ihr ab, besprach mit ihr nur mehr das Allernötigste, als Sekretärin und Dolmetscherin brauchte er sie noch. Früher waren sie abends manchmal miteinander essen gegangen, eine kurze Pause vor seiner Nachtschicht, das war nun undenkbar. Als sie abreiste, kam er nicht zum Autobus, um sich von ihr zu verabschieden.
«Er ist gefährlich. Er spielt mit Menschen, bindet sie an sich», sagt Amira. Sie ist immer noch gekränkt.
Ruth kann ihr nur recht geben, aber es ist ihr, so glaubt sie zumindest, inzwischen egal. Nach der Scheidung hat sie jahrelang vergeblich versucht, Michaël dazu zu bringen, mit ihr ein abschließendes Gespräch zu führen, hat ihn angefleht, ihr zu helfen, sich von ihm zu lösen. Er hat sich nie darauf eingelassen. Und irgendwann hat Ruth es dann ohne ihn geschafft, den Knoten zu lösen. Jetzt fühlt sie sich frei.
«Kümmert er sich wenigstens um sein Kind?»
«Um was für ein Kind?»
«Na, um seinen Sohn.»
«Er hat keinen Sohn.»
«Doch, hat er. Weißt du das denn nicht?»
«Amira, wie kommst du denn auf so was?»
«Er hat es mir selbst erzählt.»
«Was hat er dir erzählt?»
«Ja, während einer Autofahrt. Ich hab irgendeine flapsige Bemerkung gemacht, da hat er gesagt, ich soll nicht so frech sein, immerhin könnte ich seine Tochter sein. Gelacht hab ich und geantwortet, dass das aber nicht gut ausgeht. ‹Doch, doch›, hat er gesagt, ‹bei mir schon.› Und dann hat er mir erzählt, dass er vierzehn war, als sein Sohn geboren wurde. Also gezeugt mit dreizehn, das muss man sich vorstellen! Als er volljährig wurde, hat er die Frau dann geheiratet. Er darf sein Kind nicht sehen, hat er gesagt, die Schwiegereltern haben es ihm verboten. Weil ja die Frau Selbstmord begangen hat. Es war das einzige Mal, dass er mir etwas Persönliches erzählt hat. Ein Moment der Schwäche vielleicht. Ich war richtig überrascht.»
Ruth schweigt. Sie ist sprachlos.
«Du willst mir doch nicht weismachen, dass du das nicht gewusst hast?»
«Tut mir leid, Amira, ich kann jetzt nicht weiterreden», presst Ruth noch heraus und legt auf.
11
NEIN! Das ist unmöglich. Das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Wenn es wahr wäre, hätte nichts an ihrer Liebe gestimmt. Sein Feminismus, sein sogenannter Geschlechterverrat, seine Wut auf Männer, die ihre Kinder im Stich lassen, seine Fürsorge für die Sprösslinge anderer Frauen – nichts hätte Bestand. Sechs Jahre ihres Lebens und etliche weitere in der Trauerphase hätte Ruth mit einer Fiktion zugebracht. Sie glaubte ihn zu kennen, verstanden und als einen Teil ihres früheren Lebens abgelegt zu haben. Jetzt ist sie wieder aufgerissen, die alte Wunde. Wer um alles in der Welt ist dieser Mann? War ihre Beziehung eine einzige Lüge? Die Wucht dieses Verdachts trifft sie stärker als das damalige Entsetzen über ihr Auseinanderdriften. Wie ein Keil schiebt er sich in ihre eben erst zurückeroberte Ruhe. Nach Jahren der Erstarrung, in denen sie den Ablauf der Ereignisse Hunderte Male wiedergekäut, Szenarien nachgestellt, umgestellt, neu arrangiert hatte, wenn sie so und nicht so gehandelt hätte, wäre es vielleicht anders gekommen … Und auch immer wieder der Vorwurf an sich selbst: War sie zu ungeduldig gewesen? Zu egozentrisch? Hätte sie mehr Verständnis für seine Notlage aufbringen müssen? Hat sie sich gehen lassen? Hätte sie sich zusammenreißen und sich etwas einfallen lassen müssen, um ihre alte Selbständigkeit wiederzugewinnen?
Ein
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