Mein Erzengel (German Edition)
Liebhaber hätte ihn gewiss beunruhigt, zu sicher ist er sich ihrer gewesen. Ruth erinnert sich, wie er einmal wütend die Wohnung verließ, nur weil sie mit einem Freund telefonierte, mit einem Schnurren in der Stimme, wie er ihr nach seiner Rückkehr Stunden später vorwarf. «Kaum tut dir ein Mann schön, wirst du zum Weibchen!» – «Lauf nie wieder weg. Tu das nie wieder!», flehte Ruth damals und erklärte ihm, welche Panik der Gedanke, verlassen zu werden, bei ihr auslöste. Er versprach es ihr.
Hätte sie schon früher nach Wien zurückkehren sollen? In den warmen barocken Mutterschoß, zu den Kaffeehäusern und den Freundinnen, die sie seit Jahrzehnten kennen, zu ihren verflossenen Liebhabern, die vielleicht wieder zur Verfügung standen, der eine oder andere bestimmt schon geschieden.
Nur die Jungen kennen sie nicht mehr, zu lange ist sie weg gewesen. Sie wissen nicht, dass sie mit einer Gruppe Feministinnen das iranische Reisebüro besetzte, um gegen die Frauenpolitik Khomeinis zu protestieren; dass Ruth sich bei einer Veranstaltung gegen die Liberalisierung des Abtreibungsparagraphen an rechtsradikale Männer heranpirschte und ihnen Sexuelles ins Ohr flüsterte, um sie aus der Fassung zu bringen, was ihr auch gelang, denn sie waren jung und unbedarft; dass sie beim rituellen Aufmarsch am 1. Mai auf der Ringstraße «1. Mai – Tag der unbezahlten Hausarbeit» ins Megaphon rief; dass sie sich furchtlos den Fragen von Journalistinnen und Journalisten stellte, um geduldig und mit ihr heute erstaunlich floskelhaft erscheinenden Sätzen immer wieder von neuem das Anliegen der Feministinnen zu erklären, so dass sie sich allmählich zu einer Sprecherin der Neuen Frauenbewegung entwickelte, Ruth, die einmal so schüchtern war, dass sie Herzklopfen bekam, wenn sie einen Raum mit mehreren ihr unbekannten Personen betreten musste.
Selbstbewusst lachend ließ sie sich bei Demonstrationen gegen die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs als Lesbe beschimpfen, als eine, die keinen Mann abgekriegt hat. Andere Passanten wieder waren ihr wohlgesonnen und versicherten ihr, sie hätte das mit dem Feminismus doch gar nicht nötig, sie sei ein so hübsches Mädchen. Diesbezüglich hatte sie tatsächlich Glück, schlank und wohlproportioniert war sie, mit großen dunklen Augen und auf dem Kopf ungeordnete Locken, die sie nicht kämmen musste, weil sie von alleine in Form fielen. Sie schminkte sich nicht, trug Jeans oder bodenlange indische Wickelröcke und ließ ihre Brüste frei schwingen. Wenn sie Geld brauchte, schmiedete sie Silber- oder Goldschmuck, der immer Abnehmerinnen fand, versenkte Turmaline und Malachite in Betten aus angeschmolzenem Silber und versorgte obendrein die gesamte Frauenbewegung mit Anhängern in Form von Frauen- und Lesbenzeichen. Auf dem Grund unzähliger Schmuckschatullen liegen sie bestimmt noch, dunkel angelaufen und matt, so wie auch der Feminismus seine Frische verloren hat.
Ruth lebte damals mit ihrem Freund in einer Wohngemeinschaft. Nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei leisteten sie in den bleiernen Siebzigern Hilfsdienste für die im Land verbliebenen Dissidenten. Von Zeit zu Zeit fuhr sie mit der Bahn nach Bratislava oder Prag, die klein zusammengefalteten, auf dünnem Durchschlagpapier getippten Nachrichten mit Tesafilm an den Körper geklebt, und kehrte mit Bücherwünschen und anderen Mitteilungen zurück. Als dann aus London ein Campingwagen mit doppeltem Boden ankam, vollbepackt mit Büchern, die in der Tschechoslowakei verboten waren, fuhren Ruth und ihr Freund mit den Engländern in den Wienerwald, wo sie die Nummerntafeln austauschten. Sie kam sich vor wie in einem James-Bond-Film und genoss das Prickeln der Gefahr. Auch diese Tätigkeit verband sie mit Heike, deren Aufgabe es war, verschlüsselte Briefe mit einem jungen Prager auszutauschen, der als ihr Liebhaber auftrat. Ruth und Heike nahmen die ihnen auferlegte Schweigepflicht so ernst, dass sie über diese Aktivitäten auch voreinander Stillschweigen bewahrten. Erst nach der samtenen Revolution in der Tschechoslowakei fragten sie sich, warum ausgerechnet Heike dazu ausgewählt worden war, sich in einen Tschechen zu verlieben.
Die Engländer, überwiegend Trotzkisten, blieben manchmal ein paar Tage in Wien. Abends saßen sie um den großen runden WG-Tisch, eine weißbeschichtete Platte auf einem rotlackierten Gestell, und politisierten. Gefiel Ruth einer der Männer, durfte er
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