Mein Erzengel (German Edition)
Doktorspielen mitmachen ließen, was ihn bei den anderen Buben nicht gerade beliebter machte. Die passten ihn auf dem Heimweg von der Schule bei der Bank an der Weggabelung ab und verprügelten ihn. Er schlug nie zurück, hielt nur seine Arme schützend vors Gesicht. Wenn er verdreckt und tränenverschmiert nach Hause kam, setzte es Ohrfeigen von der Mutter, weil sie ihm schon wieder die Hose waschen musste. An Prügel war Michaël von klein auf gewöhnt. Der Vater hielt den Sohn für eine Memme, und der Mutter fiel gar nicht ein, ihn in Schutz zu nehmen.
Am Sonntag wurden die beiden Brüder in ihre Sonntagskluft gesteckt, und mit dem Vater ging es ab in die Kirche, das mit Wasser befeuchtete Haar an den Kopf geklebt. Die Mutter, eigentlich die Einzige, die dem Pastor und seinen salbungsvollen Worten etwas abgewinnen konnte, musste derweil im Wirtshaus kochen und sich auf den Ansturm der Gäste nach dem Ende der Messe vorbereiten. Dass der Besitzer des Gasthauses während der Besatzung ein Kollaborateur gewesen war, wussten in den Sechzigern nur noch die Älteren, das Wirtshaus brachte der Familie gutes Geld.
Michaël gefiel der Klang der Orgel, er schloss die Augen und flog fort, durch das Fenster der kargen Kirche hinauf in den Himmel. Auf Erden behagte es ihm weit weniger. Seine Kindheit war durchzogen von Hass auf den brütenden Vater, die plappernde Mutter, die übergriffigen Gäste im Gasthaus. «Geh, Michaël, komm her zu mir, bist so ein lieber Bub», sagten sie und tätschelten ihn, wo sie ihn gerade erwischten.
Das Gasthaus auf dem Deich, mit der Kammer für die Kellnerin unter dem Dach, das grüne spitzgiebelige Häuschen der Eltern gleich nebenan. Die Mutter mit ihrem klobigen Untergestell, die Hüften durch harte Arbeit unbeweglich geworden, watschelte mehr, als sie ging. Wenn sie mit ihren steifen Beinen in der Küche hin und her lief, ächzte sie und ruderte mit den Armen. Immer hatte sie zu tun, watschelte vom Herd zum Küchenschrank und wieder zurück und redete dabei ohne Unterlass. Oft beendete sie ihre Sätze mit einem «Nicht wahr?», womit sie die Zuhörer einbezog in ihren Tratsch. Wie Michaël dieses «Nicht wahr?» anwiderte. Manchmal sprach sie über seine Halbschwester, die die Brüder kaum kannten, weil sie sich bei der erstbesten Gelegenheit in die Stadt abgesetzt hatte. Sie war ein Kind der Schande, der die Mutter mehr Liebe entgegenbrachte als ihren beiden ehelichen Söhnen. Darüber, wer der Vater war, wurde Stillschweigen gewahrt. Für Michaëls Vater blieb die uneheliche Tochter seiner Frau eine nie heilende Wunde.
Die Mutter hatte kaum Zeit, sich um ihren erstgeborenen Sohn zu kümmern, sie musste in der Küche kochen und manchmal auch noch bedienen, ihr Mann war ihr keine große Hilfe. Der alte Verbeke, der damals nicht besonders alt war, saß lieber mit seinen Kameraden am Stammtisch, schaute mit gesenktem Kopf aus seinen wasserblauen Augen in die Runde und schwieg. Er hatte etwas Lauerndes. Seine Lippen, aus denen nur selten ein Wort drang, waren voll und sinnlich, wie die seines missratenen Sohnes. Michaëls Schmolllippen waren es auch, die die Gäste dazu veranlassten, den mageren Buben, er mochte vielleicht sechs gewesen sein, süß zu finden und ihn in den Hintern zu zwicken, wenn er vorbeiging. Und vorbeigehen musste Michaël, denn er servierte die Speisen. Mit trippelnden Schritten näherte er sich den Tischen, den mit der Zeit immer heißer werdenden Suppenteller zwischen seinen schmalen Händen. Da konnte er sich auch nicht umdrehen, um zu schauen, wer ihn gekniffen hatte.
Als er klein war, hatten sie ihn im Gitterbett stundenlang allein gelassen. Aus Protest beschmierte Michaël sein Gitterbett mit Kacke, rebellisch war er schon im Babyalter. An die Tracht Prügel konnte er sich zur Zeit seiner Hilfskellnertätigkeit ebenso wenig erinnern wie an die Geschichte selbst, die die Mutter gern am sonntäglichen Mittagstisch zur Belustigung der Verwandten zum Besten gab. Niemanden scherte es, dass das Kind sich schrecklich schämte.
Trost fand Michaël bei der Familie von Annemieke, dort fühlte er sich wohl. Es waren arme Leute, die keinen Grund hatten und am Rand von Meerwijk wohnten. Hier ging es anders zu als bei ihm zu Hause. Die Mutter setzte sich zu den Kindern an den Tisch und unterhielt sich mit ihnen und auch mit Michaël. Vor allem aber gab es hier Bücher, aus denen die Mutter vorlas. Später las ihm Annemieke vor, denn sie war zwei Jahre älter.
Michaëls
Weitere Kostenlose Bücher