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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
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ein drittes. Der Mann rechnete ihr vor, was Helmut das Lackieren des Autos kosten würde, eine vierstellige Schillingsumme. Ruth war zufrieden. Der Mann hatte Verständnis, auch er habe den Diamantring, den er seiner Freundin «in einer Anwandlung von Wahnsinn» geschenkt hatte, in der Donau versenkt. Sie verabschiedeten sich als gute Freunde.
    Von Helmut hörte sie nie wieder. Doch zufällig sah sie einige Tage später sein auffällig dekoriertes Auto. Er hatte mit demselben lila Spray die Männerzeichen und die anklagenden Slogans zu unlesbaren Hieroglyphen vervollständigt. So etwas hatte Ruth zuletzt an den Hauswänden von Madrid gesehen. Auf diese Weise wurden die Parolen der Franco-Gegner unleserlich gemacht. So viel Einfallsreichtum hätte sie ihm nicht zugetraut, aber Helmut fuhr tatsächlich einige Zeit so herum, bis er genügend Geld beisammen hatte, um den Wagen neu lackieren zu lassen. Chapeau!

    Als Ruth sich mit den englischen Trotzkisten vergnügte, war Michaël eben den Kinderschuhen entwachsen und schickte sich an, die holländische Tiefebene gegen die österreichische Bergwelt einzutauschen, er hatte das Heiratsalter erreicht. Seltsam, dass sie ihn nie gefragt hat, weshalb er sich das antat. Heiraten war damals nicht gerade in Mode, eher brachte man sich schon mal um.
    Ruth selbst hatte nie heiraten wollen, das Beispiel ihrer Eltern ermunterte sie nicht, und außerdem hatte sie Engels’ «Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates» gelesen. Als sie, schon weit über das übliche Heiratsalter hinaus, sich mit Michaël verehelichte, schüttelte ihre Mutter nur ungläubig den Kopf, murmelte: «Oje, schon wieder so ein Junger!», fragte aber nicht weiter nach, denn längst teilten sie einander keine Vertraulichkeiten mehr mit.
    Ruth war zwar immer noch Aktivistin, als Michaël sich in sie verliebte, aber doch schon um einiges gesetzter. Die Männer liefen ihr nicht mehr hinterher, weshalb sie sich ja auch mit einem Inserat behalf, um einen Liebhaber zu finden. Vor allem aber hatte sich, was ihr damals gar nicht klar war, eine gewaltige Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit aufgestaut. Die erotischen Abenteuer aber, in die sie sich stets mit neuem Elan stürzte, ließen sie in den meisten Fällen weidwund zurück. Wenn sie verlassen wurde, fiel sie in einen Abgrund.
    So konnte Ruth Michaëls verführerisches Angebot von Ehe und lebenslanger Glückseligkeit nicht ausschlagen.
    Und jetzt diese Geschichte mit dem Kind. Ruth kann es immer noch nicht fassen. Ob er sie bewusst angelogen hat? Wie konnte er dann all die Jahre ruhigen Gewissens an ihrer Seite leben? Oder erinnert er sich wirklich nicht? Er war ja damals selbst noch ein Kind. Als Ruth dreizehn war, hatte sie noch nicht die Regel und kaum Brüste. Wenn wahr wäre, was Amira gesagt hat, dann musste Michaël vielleicht seine Erinnerung anpassen, um sein heutiges Leben plausibel erscheinen zu lassen.
    «Die Erinnerung hängt nicht von der Vergangenheit ab, sondern von der Gegenwart.» Diesen Satz hat sie in einem Artikel über Alexander Mitscherlichs biographische Sinnstiftung gelesen. Immer wieder waren sie und Michaël ratlos angesichts von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die über Jahrzehnte hinweg Aspekte ihres Lebens verschwiegen. Hatten sie keine Angst, dass die Wahrheit eines Tages ans Licht kommen würde? Hätten sie nicht ruhiger gelebt, wenn sie reinen Tisch gemacht hätten? Jugendsünden sind verzeihlich, jahrzehntelanges Schweigen nicht.
    Ruth hätte Michaël garantiert verziehen, wenn er es ihr nur erklärt hätte. Letztlich war das Missbrauch eines Minderjährigen. Mit vierzehn Vater zu werden ist gewiss ein schwerer Schlag. Und dann war der Sohn auch noch behindert.
    Erzählt hat er Ruth, dass er in diesem Alter von einer wesentlich älteren Frau verführt wurde. Oft hat sie sich Szenen seiner Kindheit ausgemalt. Der dreizehnjährige Michaël durfte nicht mehr im Knabenchor mitsingen, weil seine Stimme gekippt war, ein Unglück für den Jungen, denn die Stunden im Chor gehörten zu seinen wenigen Freuden in dem kleinen spießigen Ort, wo seine Eltern wie Aussätzige behandelt wurden. Michaël war ein zartbesaitetes Bürschchen, das sich vor den groben Landbuben fürchtete und am liebsten mit Mädchen spielte. Die Mädchen mochten ihn, weil er sie wie seinesgleichen behandelte, ein guter Zuhörer war und sich von ihnen herumkommandieren ließ. Er war der einzige Junge, den sie in der Scheune bei ihren

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