Mein Erzengel (German Edition)
dem? Hat er hier gelebt?»
«Da sag i nix. Nix. Gar nix.»
Es ist aussichtslos. Dem Mann ist kein weiteres Wort zu entlocken. Er steht sogar ächzend auf, nimmt sein Bier und setzt sich an einen anderen Tisch, von dem aus er sie verstohlen beäugt.
«Kennen Sie den Mann?», fragt Ruth die Greißlerin, eine Frau um die fünfzig mit großem Busen.
«Was ist mit dem?», fragt sie nach einem raschen Blick auf das Foto, ihre Stimme ist scharf. Sie wischt sich die Hände an der Schürze ab. «Hat sich wieder eine umgebracht?»
«Aber nein!», stößt Ruth erschrocken hervor. «Ich kenne ihn nur aus Amsterdam, und da er einmal hier gelebt hat …»
«Ja, ja, der hat hier gelebt. Gott sei Dank ist er weg und traut sich nimmer her. Er hat die Vera auf dem Gewissen, der Schuft. Arme Vera.»
«Seine Frau?»
«Zuerst hat er sie dem Gerhard abspenstig gemacht, ein anständiger Mensch, warum sie von dem weg ist, hat keiner verstanden. Eine Frau mit zwei Kindern! Der Holländer war ja viel zu jung für sie. Gearbeitet hat er auch nicht, hat sie ins Büro geschickt und ist bei den Kindern geblieben. In Holland ist das vielleicht üblich, bei uns nicht. Und dann ist er weg, ein paar Jahre hat die große Liebe nur gedauert. Die Vera war so eine gute Frau. Aber der Holländer hat sie ganz narrisch gemacht. Alle haben gesagt, sie soll die Finger von ihm lassen, aber sie hat auf keinen gehört. Immer nur mit dem Holländer hat sie sein wollen. Der Gerhard war ganz verzweifelt.»
Die Frau erzählt ihnen, dass keiner das Haus am See habe kaufen wollen. Es liege ein Fluch darauf. Laute Musik haben sie gemacht und Orgien gefeiert, sagt die Frau. Der Förster habe einmal eine ganze Gruppe junger Leute nackt am See gesehen, mitten in der Nacht, samt den Kindern. Auch der Gerhard habe sich verändert, wollte nach Veras Tod nichts mehr von seinen Kindern wissen. Das sei nicht normal, das habe es noch nie gegeben in Kirchstätten. Man hat doch schließlich eine Verantwortung. Der arme Bub sei im Heim, der hat so fahrige Bewegungen gemacht, und niemand kommt ihn besuchen, nicht einmal Veras Eltern. Arme Eltern, sie können den Tod der Tochter nicht verwinden, obwohl es schon so lange her ist. Vera war ihr einziges Kind.
Nach einigem Zögern gibt ihnen die Greißlerin die Telefonnummer der Eltern.
«Sagen Sie aber nicht, dass Sie von mir kommen!»
Heike ruft an, Ruth traut sich nicht. Als sie Michaëls Namen erwähnt, schreit die Frau «Lassen Sie uns in Ruh!» und legt auf.
«So kommen wir nicht weiter. Rufen wir Maria an», sagt Heike.
Maria ist sofort bereit, sie zu treffen. Am Telefon hat sie eine verrauchte Stimme, tief wie ein Mann. Die Adresse, die sie angibt, führt die beiden Frauen an den nordwestlichen Stadtrand von Salzburg. Wenn Ruth an Salzburg denkt, fallen ihr immer nur die Ansichtskartenbilder ein, Getreidegasse, Mozarthaus, Staatsbrücke, Kapuzinerberg, Mirabellgarten, Festung Hohensalzburg. Wo Maria wohnt, ist von alldem nichts zu merken. Einförmige graue Wohnblöcke, wie man sie auch in Wien, Zagreb und Krakau findet, Graffiti im Stiegenhaus, überquellende Mülltonnen, verdreckte Aufzüge. Marias Klingel funktioniert nicht, ein alter Mann mit einer Billa-Tüte lässt uns ins Haus. Sie wohnt in der achten Etage eines zwölfstöckigen Wohnturms mit rostroten Balkonverkleidungen und langen neonbeleuchteten Gängen.
«Ich komme!», ruft es von innen auf ihr zaghaftes Klopfen. Sie hören schlurfende Schritte und das typische Husten einer Raucherin.
Die Frau, die ihnen öffnet, hat ein schmales, faltiges Gesicht, aus ihrem linken Mundwinkel hängt eine Zigarette.
«Nur herein!», sagt Maria fröhlich und schließt den Reißverschluss der Jacke ihres Jogginganzugs. Sie ist sehr dünn. Es riecht nach abgestandenem Rauch und ungelüftetem Bett. Maria nimmt einen Stapel Wäsche vom Stuhl, ob sauber oder schmutzig ist nicht auszumachen, und lädt sie ein, am Tisch Platz zu nehmen. Sie leert den Aschenbecher und stellt ihn wieder vor sich hin. «Tee?» Sie nicken. Der Rand von Ruths Tasse ist abgeschlagen. Maria trägt ihr Haar straff nach hinten gebunden, was ihr Gesicht noch hagerer erscheinen lässt. Unter den Augen hat sie tiefe Ringe, doch der Blick, den sie fragend an sie richtet, ist klar. Nur die hellen Augen erinnern Ruth an das Foto, das Michaël ihr einmal gezeigt hat. Maria nimmt einen Krümel Tabak von ihrer Zungenspitze und wartet. Ruth weiß nicht, wie sie anfangen soll. Verstohlen schaut sie auf Marias
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