Mein Erzengel (German Edition)
an.» – «Sie gefallen mir eben», entgegnete Ruth trotzig.
Ähnlich erging es ihr, als sie anfing, sich mit jüdischer Religion und Tradition zu beschäftigen. Sie besichtigte die prachtvolle Portugiesische Synagoge an der Visserplein-Straße und nahm einmal sogar – voller Angst, etwas falsch zu machen – an einem Gottesdienst teil. Sie beschäftigte sich mit einer Strömung des Feminismus, die den Versuch unternimmt, die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, an die Bedürfnisse von Frauen anzupassen. Als sie Michaël glühend von ihren neuen Erkenntnissen erzählte, überschüttete er sie mit Hohn. Während sie seine Ablehnung der afrikanischen Skulpturen noch halbwegs gelassen hinnehmen konnte, weil sie ihn für nicht kompetent hielt, war sie dieses Mal tief gekränkt und vermied fortan jedes derartige Gespräch, ja sie legte das ganze frischerwachte Interesse am Judentum auf Eis und taute es erst wieder auf, nachdem Michaël aus ihrem Leben verschwunden war. Störte es ihn, dass sie sich für etwas interessierte, woran er nicht teilhaben konnte? Wollte er sie mit Haut und Haar für sich haben? War das der Grund, warum er nach ihrer Hochzeit darauf drängte, nach Amsterdam zu ziehen? Von da an schwieg Ruth über vieles, was sie bewegte, und vermied jede Kritik an Michaël. Sie folgte seinen Vorgaben wie eine Marionette. Dabei hat sie noch seine Worte im Ohr: «Dein Feminismus garantiert mir, dass du deine Autonomie nicht verlieren wirst. Er erlaubt mir, mich zu öffnen.»
«Morgen gehen wir schwimmen», sagt Heike im Lehrerinnenton.
«Tolle Idee.»
15
Neapel. Ruth legt eine Pause ein, will für ein paar Tage nicht an Michaël denken. Hier wird nichts an ihn erinnern. Eingeladen hat Benedetto sie, ein Juwelier, den sie auf der internationalen Schmuckmesse in Mailand kennengelernt hat. Sie bevorzugt Silber und klare geometrische Formen, er liebt es eher barock, arbeitet mit Gold und Edelsteinen. Spontan bucht Ruth um, fliegt mit ihm in den Süden. Weißes Haar, schwarze Augen unter schweren Brauen, sein schmaler Körper in einem Sakko aus grauem Kaschmir. Bewundernd streicht sie über den weichen Stoff. Die Wut der letzten Monate weicht der Vorfreude auf Bettwäsche aus Seide und duftende Männerhaut. Benedetto hilft ihr in den Mantel, hält ihr die Tür auf, übernimmt im Restaurant die Rechnung. Es macht wieder Spaß, Frau zu sein. Und weit und breit kein Michaël, der ihr feministisches Fehlverhalten vorwirft.
Benedetto fährt einen dunkelgrünen Alfa Romeo, den er allerdings in der Stadt nicht benutzt. Im alten Zentrum von Neapel, wo er in der dritten Etage eines Palazzo aus dem sechzehnten Jahrhundert wohnt, ist ein Fortkommen nur zu Fuß möglich, und auch das ist mühsam. Vor der Pizzeria, die in den Fremdenführern als die beste Neapels angepriesen wird, bildet sich um die Mittagszeit ein Stau. Frei bewegen kann man sich erst wieder, wenn die Gasse in die weiträumige Piazza San Domenico mündet.
Benedettos feines, gut gegen Diebstahl gesichertes Juweliergeschäft liegt an der Spaccanapoli, der engen Schneise, die die Stadt in schnurgerader Linie von Westen nach Osten durchschneidet, wobei sie mehrmals ihren Namen ändert. Seine eigenen Sachen würden Ruth nicht gefallen, ahnt er zu Recht, also führt er sie zur Konkurrenz. Versteckt in einem unscheinbaren Palazzo mit Blick auf die prächtige, allerdings bis oben hin eingerüstete Galleria Umberto I befindet sich der Showroom einer auf Bearbeitung von Korallen und Perlmutt spezialisierten Schmuckmanufaktur. Mit sichtbarem Stolz führt sie der Besitzer durch die Räume, zeigt ihnen die verschieden gefärbten Muscheln, aus denen zierliche Frauenhände Kameen schnitzen. Benedetto kauft Ruth eine Halskette aus rosafarbenen Korallen. Sie passe gut zu ihren lackierten Zehennägeln, sagt er.
Es ist Vorweihnachtszeit. Menschenmassen drängen in die Via San Gregorio Armeno, wo Krippenpersonal und ganze Krippen in allen Größen nach Vorlagen aus dem achtzehnten Jahrhundert feilgeboten werden. Ruth kauft sich einen Engel mit Glasaugen und Gipsflügeln, umhüllt von wolkigen Bahnen weißer, gelber, türkiser und lila Seide. Er wird zu Hause von der Wohnzimmerdecke schweben. Schon wachen an der Schlafzimmerwand zwei Barockengelköpfe mit goldenen Flügeln über ihre Nächte.
In letzter Zeit hat sie eine Vorliebe für Kitsch entwickelt, die pausbäckigen Engel geben ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Nackt und ungeschützt stand sie nach der Trennung von
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