Mein Erzengel (German Edition)
Schon die Einladung fiel reichlich ideologisch aus. «Weil ich versuchen will, die Aufhebung von Herrschaft zwischen Mann und Frau, der mein politischer Kampf gilt und ohne die Liebe nicht sein kann, in meinem privaten Leben zu leben», schrieb Ruth. «Ich habe nicht verdrängt, dass im Patriarchat die Institution Ehe der Zurichtung von Frauen dient.» So begann Michaël seinen Text. «In einer Zeit, in der die Autonomie des Subjekts zur Beziehungslosigkeit von Monaden verkommt, kann ich mein Bekenntnis zur Ernsthaftigkeit nur anachronistisch ausdrücken. Es ist ein Versprechen, eine egalitäre Beziehung zu leben, Verantwortung zu übernehmen und aktive männliche Zurücknahme zu üben.» Auf diese Statements reagierten einige von Ruths Freundinnen gereizt. «Einen Hinweis darauf, dass ihr miteinander leben wollt, weil ihr euch liebt, hätte ich revolutionärer gefunden», schrieb eine. Wie recht sie hatte.
Das Menü war bescheiden, die Getränke sollten die Gäste selbst bestreiten, zu Recht vergaßen die meisten es. Für später am Abend hatte Michaël sogar eine Band bestellt, deren Musik zu avantgardistisch war für ein Fest, aber zum Tanzen war das Lokal ohnehin zu klein. Ruth amüsierte sich dennoch prächtig. Alle ihre Freundinnen und Freunde waren gekommen, auch einige ehemalige Liebhaber. Wenn eine stadtbekannte Feministin heiratet, ist das ein Ereignis. Danach fühlten sich auch andere zu diesem Schritt ermutigt, den Ruth noch wenige Jahre zuvor für völlig ausgeschlossen gehalten hätte. Aber jetzt wollte sie endlich einen Mann, der zu ihr stand und dies auch öffentlich kundtat. Den hatte sie nun.
Michaël hatte kaum Freunde, und so begann er sich nach einiger Zeit zu langweilen, wahrscheinlich war er aber auch eifersüchtig. Jedenfalls nahm er irgendwann seinen Mantel und ging. Ruth musste sich allein um das Begleichen der Rechnung und den Heimtransport der Geschenke kümmern, darunter ein paar Boxerhandschuhe und ein mit Saharasand gefülltes Einweckglas. Die Boxerhandschuhe haben sie schon bald einem Kind geschenkt, die Botschaft, dass man in der Ehe auch streiten müsse, kam bei ihnen nicht an. Den Saharasand hat Ruth überallhin mitgenommen, nach Amsterdam und wieder zurück nach Wien. Er verkörpert für sie ihre Sehnsucht nach Afrika.
Als sie, vom Hochzeitsfest heimgekehrt, am frühen Morgen zu Michaël ins Bett kroch, stellte er sich schlafend. Am nächsten Tag warf er ihr vor, sie habe sich nicht genügend um ihn gekümmert, schließlich sei es auch sein Fest gewesen.
Sie ging nicht groß auf seine Vorwürfe ein, war ja dieses exzentrische Verhalten gewöhnt, liebte ihn sogar noch dafür. Abgöttisch, könnte man sagen, wenn es nicht so abgedroschen wäre. Er war ihr junger Prinz, der zu einem Zeitpunkt in ihr Leben trat, an dem sie nicht mehr mit einer Liebe gerechnet hatte. Er war ihr launischer, genialer Geliebter, der ihr nicht schrullig genug sein konnte. Solange er sie nur liebte und ihr diese wunderbare Geborgenheit bot.
«Ich habe ihn damals zum ersten Mal gesehen», unterbricht Heike Ruths Gedankenfluss. «Ich habe ihn zu seiner Wahl beglückwünscht, ihn aber auch gewarnt, dass du kein einfacher Mensch bist.»
War sie vielleicht neidisch auf mein Glück?, schießt es Ruth durch den Kopf. Schließlich war Heike damals wieder einmal allein. Immer wieder haben sie sich abgewechselt. Mal war die eine in festen Händen, wie man so sagt, mal die andere, wobei sich die Hände in den meisten Fällen als wenig fest erwiesen. Einmal hat Ruth sich sogar mit dem jungen Liebhaber eingelassen, mit dem Heike sich gegen ihre auf Grund laufende Ehe wehrte. Das war schäbig, aber Ruth hatte nicht widerstehen können. Natürlich war Heike wütend, ein Jahr lang sprachen sie nicht miteinander. Am Ende hat dieser Konflikt ihre Freundschaft weiter gefestigt. Heute können sie darüber lachen.
«Weißt du, was er geantwortet hat?», fragt Heike.
«Na?»
«Gott sei Dank können wir keine Kinder haben.»
«Da hat er wohl mein fortgeschrittenes Alter gemeint.»
«Das habe ich ihn auch gefragt. Aber das war es eben nicht. Er meinte, dass Kinder Beziehungen und Lebensläufe stark verändern. Euer Altersunterschied sei für ihn sogar die Voraussetzung für das Glücken der Beziehung. Als du vierzehn warst, war er gerade zwei, hat er mir vorgerechnet. Seither ist der Abstand immer kleiner geworden. Wenn du hundertzwölf bist und er hundert, würde man nicht mehr erkennen, wer von euch beiden älter ist.
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