Mein Erzengel (German Edition)
Da musste ich lachen. Er geht davon aus, dass Männer anders altern als Frauen, bei Männern fängt es schon mit vierundzwanzig an, bei Frauen erst mit vierzig. ‹Wer weiß›, habe ich geantwortet, ‹vielleicht willst du aber irgendwann doch noch ein Kind, dann wird dir Ruths Alter vielleicht lästig sein.› – ‹Das kann für mich nie zum Problem werden›, hat er gesagt, ‹denn ich bin sterilisiert.› Mit achtzehn hat er sich in Belgien sterilisieren lassen.»
«Ist das wahr?»
«Das hat er gesagt, mein Ehrenwort.»
«Das darf nicht wahr sein!», ruft Ruth aus. «Und ich habe mich schuldig gefühlt, dass er mit mir kein Kind haben kann, wo er Kinder doch so liebt!»
«Du hast es nicht gewusst?»
«Nein!»
Ruth schreit fast. Ein weiteres Geheimnis. Der Mann wird ihr immer unheimlicher.
Wenn es wahr wäre, dann hätte er sich sterilisieren lassen, als er Vera heiratete.
«Ich war einigermaßen überrascht», fährt Heike fort, «achtzehn Jahre ist doch arg jung. Wir haben uns dann eine Weile über die Vasektomie unterhalten. Er sah den Entschluss als seinen persönlichen Beitrag zur Bekämpfung des Patriarchats und war mächtig stolz darauf, Verantwortung zu übernehmen, während die anderen Männer sich gegebenenfalls nach vollbrachter Tat aus dem Staub machen. Und wenn wir schon bei Vertraulichkeiten sind», sagt Heike mit einem feinen Lächeln: «Euer Anrufbeantworter …»
Heike ist unerbittlich. Der Text auf ihrem Anrufbeantworter war ja auch wirklich eine einzige Peinlichkeit, auf Michaëls Mist gewachsen, aber von Ruth mitgetragen. Obwohl sie nun offiziell ein Ehepaar waren, wollten sie allen Anrufern unmissverständlich mitteilen, dass man sie auf keinen Fall im Zweierpack ansprechen dürfe, weil jede/r von ihnen auf seiner/ihrer Autonomie bestehe. Stundenlang nahmen sie immer wieder von neuem ihren mit Musik unterlegten Text auf, bis sie endlich zufrieden waren. Heraus kam eine Art folie à deux, die Anrufer schon allein wegen ihrer quälenden Länge nerven musste, obwohl sich erstaunlicherweise damals niemand beschwerte. Ruth könnte noch heute erröten, wenn sie daran denkt, wie lächerlich sie sich damals gemacht hat.
Autonomie war Michaëls Zauberwort. Es war, als ob er mit magischen Beschwörungsformeln verhindern wollte, was er gleichzeitig heftig betrieb: Abhängigkeit erzeugen. Er spickte die Voodoo-Puppe gerade an jenen Stellen mit Nadeln, an denen er selbst verwundbar war.
Sie waren buchstäblich immer zusammen, arbeiteten Seite an Seite, gingen miteinander einkaufen und zur Bank, um täglich nachzusehen, ob ein schon mehrere Monate fälliges, dringend benötigtes Honorar endlich überwiesen worden war. Bisweilen hätte Ruth gern einen Abend alleine verbracht, sie hätte sich dann im Fernsehen eine sentimentale Serie angesehen, die er verachtete. «Willst du nicht mal ausgehen?», ermunterte sie ihn. Dass sie selbst außer ihm niemanden kannte in der fremden Stadt, war in der Anfangszeit verständlich, aber er müsste doch von früher noch Freunde haben. «Ich brauche das nicht, ich bin glücklich mit dir», antwortete er. Es war, als ob auch er sich nur in ihrem Schutz wohl fühlte. Alles wollte er mit ihr bereden, las ihr seine Texte vor, auch wenn sie sich um irgendeine neue Software drehten, von der sie nichts verstand, diskutierte mit ihr Artikel, die er vor ihrem Aufwachen in der Zeitung gelesen hatte. Zu einer Diskussion, die diesen Namen verdient hätte, kam es nicht, denn seine apodiktisch vorgetragenen Meinungen verlangten in erster Linie nach Bestätigung.
Wenn er selbst Widerspruch äußerte, war das für Ruth meistens verletzend. Einmal besuchte sie eine Ausstellung moderner Shona-Skulpturen aus Simbabwe, seidenglatt geschliffene stilisierte Mensch-Tier-Gestalten aus Serpentin mit unheimlich deformierten Zügen oder kreisrund staunenden Augen und verschmitzt zusammengekniffenen Mündern. Begeistert ließ sie ihre Hand über die kühlen Rundungen gleiten. Einer der Künstler, der es zu Weltruhm gebracht hat, sitzt oft tagelang vor seinem Stein und lässt ihn zu sich sprechen, so steht es in der Broschüre, die Ruth mit nach Hause brachte. Nicht der Künstler habe eine Idee, sondern die Seele des Steins lasse den Bildhauer erkennen, welche Form sie mit seiner Hilfe annehmen wollte. Das gefiel Ruth, denn manchmal ging auch sie bei ihrer Goldschmiedearbeit ähnlich vor.
Michaëls Blick verdüsterte sich: «Jetzt fängst du auch schon mit diesem spirituellen Quatsch
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