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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
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Michaël da, umgeben von einer geradezu mit Händen greifbaren Leere. Als sei sie unsichtbar, strich sie durch die Straßen Amsterdams, die plötzlich jede Schönheit verloren hatten, schlängelte sich an Menschen und Fahrrädern vorbei wie ein durchsichtiger Fisch an Seetang. Dann wieder, wenn sich ein williges Opfer fand, redete sie wie ein Wasserfall, über Michaël und den Krieg, der ihn ihr entrissen hat, über ihre Einsamkeit, das Älterwerden und ihre Angst vor der Zukunft. Wer ihr gerade zuhörte, war egal, sie redete um ihr Leben. Das Sprechen über den Schmerz hat es ihr gerettet, das Leben. Am Ende wusste sie nicht mehr, ob sich das, was sie da erzählte, tatsächlich so abgespielt hatte. Nach mehrmaliger Wiederholung begann es wie auswendig gelernt zu klingen.
    Armer Michaël, über seine Lebenslüge darf er mit niemandem reden, muss eingekapselt bleiben in seiner selbsterschaffenen Welt. Aber was, wenn es gar keine Lebenslüge gibt? Auf Ruths Fragen, die sie über alle verfügbaren Kanäle, mit Ausnahme des direkten Gesprächs, an ihn richtete, erhielt sie keine Antwort. Ein Eingeständnis? Sie weiß es nicht. Es ist, als hätte sie ihn nie gekannt. Und – und das ist viel schlimmer: Es ist, als wäre er nie weggewesen aus ihrem Leben. Was hat sie sich abgerackert mit Therapie und schonungsloser Selbstbefragung, um dann, Jahre später, festzustellen: Sie steht immer noch in seinem Bann.

    Über Benedetto will sie nichts wissen, ist nicht neugierig, was aus seiner Frau geworden ist und ob er Kinder hat, sie lässt sich wiegen vom melodischen Klang der italienischen Sprache, von seinen sanften Umarmungen, die nichts anderes wollen als ihr und Benedetto selbst Vergnügen zu bereiten. Ohne Zukunft macht die Liebe viel mehr Spaß. Die Fensterläden von Benedettos Schlafzimmer bleiben geschlossen, in der dunklen Stille unter der hohen Stuckdecke ist es auch am Nachmittag Abend. Ein Raum wie geschaffen für die Wollust. Das Triumphgefühl aus der Zeit vor ihrer Begegnung mit Michaël kehrt zurück: Lust ohne Liebe. Den Augenblick genießen mit wachen Sinnen, den Körper wölben wie ein Kind, wenn eine zärtliche Hand seinen Rücken entlanggleitet, dankbar jeden Genuss entgegennehmen.
    Gesättigt dann in die Kleider schlüpfen und hinaustreten in die lärmende Stadt, die sich über mehr als zwei Jahrtausende aufgeschichtet hat, ohne restlos zu zerstören, was darunter liegt. Unter der mit wuchtigen Basaltquadern gepflasterten Straße, jahrhundertelang poliert von Millionen Füßen, Reste eines römischen Theaters aus schmalen Ziegeln und einer Shopping Mall samt Steinwanne für Urin, dessen Ammoniak die Römer zum Färben ihrer Stoffe benötigten. Benedetto führt Ruth in die Unterwelt, wo Griechen und Römer ihre Brunnen hatten, und mit einem Mal berührt die Decke fast ihre Köpfe. Sie stehen auf einer meterhohen Schicht zusammengepresster Gebeine, Leichen, die während der Choleraepidemie im Mittelalter in die unterirdischen Tuffhöhlen geworfen und mit Erdreich zugeschüttet wurden.
    Aus dem feuchten Dunkel tauchen sie auf in das Gewühl von Menschen mit ungebügelten Gesichtern, wie in den Gemälden von Caravaggio und Gentileschi. Menschen, die bisweilen Totò ähneln, dem berühmten Schauspieler mit den unverwechselbaren Zügen, der neben San Gennaro, dem Patron von Neapel und der Goldschmiede, zu den Schutzheiligen der Stadt zählt. Der heilige Gennaro, dessen im Dom in einer verschlossenen Ampulle aufbewahrtes getrocknetes Blut sich auf wundersame Weise dreimal jährlich verflüssigt, soll auch vor Vulkanausbrüchen warnen. Mit Erdbeben scheint er sich nicht so auszukennen, er versäumte, das vom November 1980 anzukündigen, weshalb in Benedettos prächtiger Wohnung an den Wänden deutliche Risse erkennbar sind.
    Während der Fischverkäufer mit lautem Singsang seine Ware anpreist, stehen zwei ältere Männer unbeeindruckt in der pulsierenden Menge, rauchen und debattieren. Nur zu gern würde Ruth verstehen, was sie einander in ihrem Dialekt zu sagen haben, dann könnte sie sich einmischen und ungefragt mitreden, wie es auf den Straßen Neapels durchaus üblich ist. Die Menschen haben keine Angst vor körperlicher und emotionaler Nähe.
    Wenn Benedetto keine Orangen mehr hat, ruft er vom Balkon aus den Obsthändler an der Ecke herbei, lässt an einer Schnur einen Korb hinunter und zieht die Ware zu sich herauf. Bezahlt wird irgendwann, man nimmt es nicht so genau.
    Einen Michaël kann man sich hier

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