Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
. Das Leben geht weiter …
SCHMIDT:
Wie ist es möglich, dass sich Ungarn in den letzten Jahren vom Westen weg entwickelt hat?
FISCHER:
Die Ungarn sind ein merkwürdiges Volk. Ich kann es nur darauf zurückführen, dass sie sich isoliert fühlen, zu keiner der großen europäischen Sprachgruppen gehören …
SCHMIDT:
Das gilt aber auch für die Finnen und die Esten.
FISCHER:
Ja, aber die leben ganz am Rande des Kontinents; die Ungarn leben in dessen Mitte, umgeben von der slawischen, der germanischen und der romanischen Sprachgruppe. Hinzu kommt, dass das jüdische Bürgertum durch die Nazis vertrieben oder vernichtet wurde, und die Juden hatten in Ungarn eine wichtige Mittlerfunktion inne. Die Weltläufigkeit der jüdischen Bourgeoisie, die in Budapest, aber auch in vielen anderen Städten Ungarns eine entscheidende Rolle gespielt hat, fehlt heute, und auch deshalb ist der Nationalismus, auf den man zurzeit in Ungarn trifft, so dumpf.
SCHMIDT:
Frau Loah und ich sind in diesem Sommer mit der Donaudampfschifffahrt bis ins Eiserne Tor und zurück gefahren, wir passierten Budapest auf der Hinfahrt am Tage und auf der Rückfahrt bei Nacht, und was mir aufgefallen ist, war die unglaubliche Schönheit der hell erleuchteten beiden Ufer.
FISCHER:
Budapest ist die einzige Stadt an der Donau, die sich getraut hat, diesen riesigen Fluss in die Mitte zu nehmen. Alle anderen Städte wenden sich von dem Strom eher ab, indem sie sich an dem einen oder dem anderen Ufer ausbreiten, Wien zum Beispiel …
SCHMIDT:
Wien, Bratislava …
FISCHER:
Ich bin öfters in Warschau, und wenn Sie Warschau mit Budapest heute vergleichen, dann ist Budapest die weitaus schönere Stadt, aber man denkt, die Wende war gerade vorgestern, während Warschau eine große Dynamik ausstrahlt, auch Modernität; man merkt, da ist etwas in Bewegung geraten, während in Budapest vieles sehr starr und vergangenheitsbezogen wirkt.
SCHMIDT:
Wir Mitteleuropäer verstehen von der Geschichte Ungarns seit dem Zweiten Weltkrieg nicht genug, wir wissen zum Beispiel kaum etwas über den ungarischen Aufstand 1956 und dessen Folgen.
FISCHER:
Oh, der war für mich sehr wichtig, da war ich acht Jahre alt. Es war faktisch noch die Vor-Fernsehen-Zeit – es gab zwar schon Fernseher, aber nur sehr vereinzelt –, und ich erinnere mich, wie meine Eltern am Radio hingen, die Mutter weinte, der Vater hatte auch gerötete Augen. Es gab noch viel Verwandtschaft in Ungarn, auch in Budapest, und die Sorge war groß. Aus Kinderperspektive war das eine der großen Krisen, die ich durchaus als prägend bezeichnen würde.
SCHMIDT:
War Ihnen denn der Name des Mannes geläufig, der als Führer des Aufstandes angesehen wurde und den sie später umgebracht haben?
FISCHER:
Imre Nagy – ja. Und auch der militärische Führer, Pál Maléter, war mir ein Begriff. Dann die Befreiung von Kardinal Mindszenty aus dem Gefängnis – die Bilder sind mir noch sehr präsent.
SCHMIDT:
Wie hieß der Mann, der dann Ministerpräsident wurde?
FISCHER:
János Kádár.
SCHMIDT:
Den Kádár habe ich ganz gut gekannt; er hat eine seltsame Entwicklung durchgemacht. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit ihm in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre im Auto in Bonn; da konnte er sicher sein, dass keiner mithörte, und da fragte er mich plötzlich: »Sagen Sie mal, Herr Schmidt, was muss ich machen, wenn ich auf die Dauer Ungarn in die Europäische Gemeinschaft führen möchte?«
FISCHER:
Es war gut, dass er das im Auto gesagt hat! Wäre das bekannt geworden, hätte es ihn Kopf und Kragen gekostet.
SCHMIDT:
Genau das habe ich ihm gesagt: »Wenn Sie das im Ernst verfolgen, dann spielen Sie mit Ihrem Leben!« Genau so habe ich es formuliert. Das also war der Mann, der wahrscheinlich mitschuldig war am Tod von Imre Nagy, und jetzt, zwanzig Jahre später, wollte er nach Europa. Er war Europa jedenfalls sehr viel mehr zugewandt als etwa Tito, dessen Politik eindeutig darum bemüht war, die Mitte zu halten zwischen der Sowjetunion und dem Westen.
DIE ZEIT:
Die Ungarn haben 1989 bei der Überwindung der europäischen Teilung eine besonders wichtige und konstruktive Rolle gespielt, als sie den Grenzzaun nach Österreich durchschnitten. Ist das, was man jetzt erlebt, in gewisser Weise ein Rückfall hinter die damalige Haltung? Herr Schmidt nennt in den vorliegenden Aufsätzen immer wieder drei Staaten in Osteuropa, deren schnelle Aufnahme in die EU er für wünschenswert hielt:
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