Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
fertiggebracht, ihre Militärdiktatur zu beseitigen. Heute ist Solidarität mit dem griechischen Volk genauso nötig wie damals.
Solidarität verträgt sich schlecht mit politischem Machtgebaren. Der von mir hoch verehrte Julius Leber, der 1945 von den Nazis umgebracht worden ist, hat gesagt: »Der Wille zur Macht muss aus der Pflicht gegenüber der Gemeinschaft erwachsen.« Der Wille zur Macht ist vielfältig vorhanden. Jedoch die Pflichten gegenüber der europäischen Gemeinschaft bedürfen künftig eines weit größeren Engagements aller Beteiligten.
Europa jetzt!
Ein Gespräch zwischen Helmut Schmidt und Joschka Fischer moderiert von Matthias Naß
( DIE ZEIT )
JOSCHKA FISCHER:
Als der erste Beitrag dieses Bandes erschien, im Juni 1948 , war ich zwei Monate alt. Wir führen hier also ein Gespräch über Europa, das zwei Generationen umfasst. Schon damals – es ging um das Ruhrstatut – sah der junge Helmut Schmidt darin eine große Integrationschance für Europa und weniger eine Bedrohung für Deutschland. Die damalige sozialdemokratische Parteiführung war »not amused«. Ich muss sagen, es hat richtig Vergnügen gemacht, diese alten und älteren Texte zu lesen, insbesondere die Bundestagsreden. Was auffällt, ist eine sich über die Jahrzehnte hinweg durchziehende proeuropäische historische Linie. Die findet man heute – egal in welcher Partei – so kaum noch. Es gibt in Deutschland zwar regelmäßig Rückgriffe auf das, was man den Grundbestand an Europa-Sprüchen nennen kann – in stark dogmatisierter Form –, aber können Sie sich an eine Europa-Debatte seit Ausbruch der Krise 2008 erinnern, in der – ob von rechts oder von links – in einer historischen Perspektive versucht wurde, deutsche Politik einzuordnen? Wo wollen wir hin, was müssen wir ändern, was wollen wir behalten? Ich kann mich nicht erinnern, dass es so etwas bisher gegeben hat. Alle sprechen mehr oder weniger denselben Text, ohne wirklich klarzumachen, in welche Richtung Deutschland agieren soll.
HELMUT SCHMIDT:
Mich stimmt die gegenwärtige Lage in Europa pessimistisch. Es steht in keiner Bibel geschrieben, dass die Europäische Union in ihrer heutigen Gestalt das Ende des 21 . Jahrhunderts erlebt. Sie kann durchaus zerfasern, weil sich die Regierungschefs über den Ernst der Lage überhaupt nicht im klaren sind. Das 20 . Jahrhundert hat die Weltbevölkerung vervierfacht, und der Anteil der Europäer an dieser Weltbevölkerung nimmt konstant ab, bei gleichzeitig zunehmender Überalterung: Das ist der Kern des Problems. Ich vermute mal, dass während meiner Lebenszeit, das heißt in den letzten 95 Jahren, die durchschnittliche Lebenserwartung um zwölf bis fünfzehn Jahre gestiegen ist. Noch 1914 starb die Masse der Leute, die einen Anspruch auf Rente hatten, lange vor Erreichen des Rentenbeginns.
FISCHER:
Na, nicht nur 1914 . Bei mir in der Grundschule – Volksschule hieß es damals – hat nur
ein
Vater die gesetzliche Altersgrenze erreicht; alle anderen sind vorher gestorben. Weil nur Männer den Vollanspruch hatten – die Frauen waren ja nur neben- oder gar nicht erwerbstätig, die meisten waren Hausfrauen –, hieß das für die Frauen, die in der Regel älter wurden, dass sie mit 40 Prozent Witwenrente oder wie viel auskommen mussten.
SCHMIDT:
Das Witwengeld war ziemlich schmal bemessen, und das offizielle Renteneintrittsalter war der siebzigste Geburtstag. Deshalb war die Rente eine ganz billige Sache damals: Jeder musste einzahlen, und niemand kriegte was raus.
FISCHER:
Jedenfalls nicht sehr viele. Und vergessen wir nicht die vielen Heimatvertriebenen, die nicht aus dem früheren Deutschen Reich kamen, sondern aus Ländern, wo es keine Bismarck’sche Sozialgesetzgebung gab; von denen hatten viele nur ganz geringe Renten-Anwartschaften. Dann gab es auch viele Selbständige, die überhaupt nie eingezahlt hatten. Meine Mutter musste mit 54 Jahren, nachdem mein Vater vom Schlag getroffen bei der Arbeit umfiel, als nicht qualifizierte Kraft im Supermarkt arbeiten gehen.
SCHMIDT:
Was hat denn Ihr Vater gemacht?
FISCHER:
Metzger.
SCHMIDT:
Richtig!
FISCHER:
Er hatte eine eigene Metzgerei gehabt, in Ungarn.
SCHMIDT:
Wann sind Sie aus Ungarn weggegangen?
FISCHER:
1946 , nach der Potsdamer Konferenz.
SCHMIDT:
1946 – da waren Sie noch ein kleines Kind.
FISCHER:
Ich war noch nicht auf der Welt. Ich bin geboren im April 1948 – ein Kind der Hoffnung, gezeugt im heißen Sommer 1947
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