Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
offensichtlich ein instinktives Gefühl, da liegt etwas quer, das aus der Geschichte kommt, aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, das muss in Polen gelöst werden; wir müssen das ertragen und müssen da jetzt durch. Geduld und ein schweigendes Verständnis für die Situation sind oft das Vernünftigste, und das hat sich auch in diesem Fall als richtig erwiesen. Inzwischen ändert sich durch eine junge Generation nicht nur das Deutschlandbild in Polen – ich bin oft in Polen –, sondern auch das Europabild hat sich massiv geändert, weil die Hoffnungen gegenüber Amerika enttäuscht wurden, vor allem in der Bush-Ära und im Zusammenhang mit dem Irak. Hinzu kommen die segensreichen Auswirkungen gemeinsamer Agrarpolitik. Der polnische Bauer, der euroskeptisch war, wenn nicht gar gegen Europa, hat erkannt, dass er vom gemeinsamen Markt profitiert, so einfach ist das. Insofern gibt es in Polen heute sehr spannende Veränderungen, die viel Hoffnung machen. Was fehlt, ist eine starke demokratische Linke, das ist das Problem in vielen osteuropäischen Ländern.
DIE ZEIT:
Würden Sie sagen, dass an der ehemaligen Nahtstelle zwischen den Blöcken allmählich etwas zusammenwächst? Und wenn dem so ist, lässt sich daraus dann der Schluss ziehen, dass wir Deutsche es im Hinblick auf Polen, Tschechien und Ungarn alles in allem richtig gemacht haben?
SCHMIDT:
Die Europäische Union ist gegenwärtig gefährdet durch die Unfähigkeit der Regierungen, sich über ihre Finanzen und ihre Banken zu einigen. Dagegen sind die historischen Reminiszenzen, über die wir uns eben ausgetauscht haben, relativ belanglos.
FISCHER:
Es sind zwei unterschiedliche Ebenen. Ich bleibe mal auf der regionalen Ebene und verweise auf die großen europäischen Wirtschaftsräume. Werfen Sie einen Blick an die deutsche Westgrenze, was sich da entwickelt hat in dem Dreieck zwischen Nordrhein-Westfalen, Belgien und den Niederlanden. Da sind Wirtschaftsräume entstanden, die jahrhundertelang durch Grenzen zerschnitten waren. Ähnlich ist das im Großraum Wien, der heute von Linz über Bratislava bis Budapest reicht. Die Mitgliedschaft in der EU , der gemeinsame Markt und der Wegfall der Grenzkontrollen spielen für das Entstehen solcher Wirtschaftsregionen eine große Rolle, und ich zweifle nicht, dass wir mit Polen eine ganz ähnliche Entwicklung bekommen werden. Wenn Sie heute in Tegel landen, spüren Sie sofort, dass Tegel für Westpolen der zentrale internationale Flughafen ist – nicht Warschau, sondern Berlin. Die Sachsen erzählen ähnliches aus dem Grenzverkehr sowohl mit Tschechien als auch mit Schlesien. Dass sich unter den neuen Bedingungen die alten Verbindungen wieder auftun, finde ich eine sehr interessante Entwicklung.
SCHMIDT:
Es ist mehr eine Folge der allgemeinen Globalisierung des Wirtschaftens als ein Fortschritt in der europäischen Integration.
FISCHER:
Der Wegfall der Grenzkontrollen spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle, auch psychologisch; man fährt einfach mal rüber.
SCHMIDT:
Der entscheidende Punkt ist die Sprache. Die Sprache bleibt ein enormes Hemmnis für das Zusammenwachsen. Tatsächlich werden alle grenzüberschreitenden Unternehmungen, auch die kleinen und mittelständischen, auf Englisch geführt. Englisch ist die Weltsprache geworden, auch innerhalb der Europäischen Union, auch bei einem Geschäft zwischen Sachsen und Polen.
FISCHER:
Dabei hilft, dass viele jüngere Polen in England und in Irland gelebt und gearbeitet haben. Großbritannien hatte seinen Arbeitsmarkt ja früh geöffnet, zu einer Zeit, als unserer nur bedingt offen war, und das macht sich jetzt positiv bemerkbar, denn viele Polen sind während der Krise in ihre Heimat zurückgegangen.
SCHMIDT:
Heute arbeiten Hunderttausende Polen in Deutschland; sie sind genauso zuverlässig wie Deutsche. Ich selbst habe zwei polnische Pflegerinnen, die rund um die Uhr da sind. Alle sechs Wochen wechseln sie sich ab. Die eine stammt aus Torun, dem ehemaligen Thorn, also aus Westpolen, die andere stammt aus Südostpolen, nahe der Grenze zur Slowakei. Beide haben ihre Häuser und ihre Familien in Polen, und wenn die sechs Wochen um sind und die andere übernimmt, dann fahren sie nach Hause.
FISCHER:
Im Großraum Berlin sind polnische Unternehmen und Arbeitskräfte eine Selbstverständlichkeit.
SCHMIDT:
Gibt es Statistiken zur Anzahl der polnischen Beschäftigten in Deutschland? Ich meine nicht die offiziell Beschäftigten, die kann man nachsehen,
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