Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
ich meine die, die nicht offiziell hier sind, die Saisonarbeiter, die Leute am Bau, die Putzhilfen. Ihre Zahl muss weit über eine Million hinaus gehen, vermute ich.
FISCHER:
Weil es sich für beide Seiten rechnet, solange die Wechselkurse zusätzlichen Gewinn abwerfen. In dem Moment, wo Polen dem Euro beitreten würde, wäre es damit vorbei. In Polen gibt es bereits heute ukrainische Saisonarbeiter.
SCHMIDT:
Schon vor dem Zweiten Weltkrieg war es übrigens ganz selbstverständlich, dass Polen als Saisonarbeiter zur Ernte nach Deutschland kamen. Loki und ich haben 1943 zum Beispiel in einer polnischen Schnitterkaserne bei Bernau gewohnt, nachdem wir hier in Hamburg ausgebombt worden waren. Schnitter nannte man die Erntearbeiter, und wie eine Kaserne sah das Gebäude eigentlich nicht aus, hieß aber so. Bei Fliegeralarm trafen sich alle im Keller, und da redeten die Frauen polnisch miteinander. Schon ihre Eltern waren Saisonarbeiter gewesen, die zur Erntezeit nach Deutschland gingen.
DIE ZEIT:
Die Zeit:
Herr Schmidt, Sie haben zu Anfang dieses Gespräches gesagt, es stehe nirgendwo geschrieben, dass die Europäische Union am Ende des 21 . Jahrhunderts in ihrer gegenwärtigen Form noch existiert. Wie bedrohlich ist die gegenwärtige Krise, wie tief reicht sie, und kann sie sich existenzgefährdend auswirken?
SCHMIDT:
Ich kann mich da nur wiederholen. Im Jahr 1950 , das ist jetzt über sechzig Jahre her, lag der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung bei weniger als 20 Prozent, knapp einem Fünftel; weitere fünfzig Jahre früher, um 1900 , war der Anteil sogar noch etwas höher gewesen. Im Jahr 2050 , das ist noch knapp vierzig Jahre hin, wird der Anteil der Europäer unter zehn Prozent liegen, vielleicht bei neun Prozent. Wenn ich mir vorstelle, wie das Verhältnis im Jahr 2100 aussehen wird, wird mir schwarz vor Augen. Hinter der politischen Krise, die wir gegenwärtig in Europa erleben, steckt also eine demographische Krise. Und die demographische Krise bringt mit sich eine Verminderung des europäischen Anteils am Weltsozialprodukt. Der Anteil der Europäer lag 1950 bei 30 Prozent und wird im Jahr 2050 vermutlich unter zehn Prozent des Weltsozialprodukts liegen. Warum? Weil alle anderen, mit der Ausnahme Japans und Russlands, gewaltig gewachsen sind und weil sie alle produzieren. Und weil sie inzwischen auf europäischem und amerikanischem Niveau produzieren – gucken Sie nur nach China oder Indien – und dabei viel billiger sind, wachsen sie zu ernsthaften Konkurrenten heran. Ich vermute, dass der durchschnittliche chinesische Arbeiter, real gerechnet, weniger als die Hälfte dessen verdient, was ein europäischer Arbeiter verdient.
FISCHER:
Was Sie gerade beschreiben, ist von der Politik bisher kaum zur Kenntnis genommen worden, nämlich dass mit dem Ende des Kalten Krieges eine globale Zäsur stattgefunden hat, die man eine fortschreitende Entwestlichung nennen könnte. Die Globalisierung ist gewissermaßen ein Vehikel gewesen, die westlichen Jahrhunderte, die Jahrhunderte der europäischen Vorherrschaft, an ihr Ende zu führen. Heute beobachten wir einen Transfer des Wohlstands von West nach Ost, der unumkehrbar scheint. Infolgedessen werden die Parameter der politischen und wirtschaftlichen Weltordnung zu Beginn des 21 . Jahrhunderts völlig anders dekliniert, als die Europäer das aus den vergangenen zwei Jahrhunderten gewohnt sind. Das hat seine positiven und seine negativen Seiten. Positiv ist, dass die Europäer nicht mehr machtvoll genug sind, um ihre Probleme weltweit zu exportieren, was sie ja seit Kolumbus eigentlich immer gemacht haben. Die Rivalitäten um Machtzuwachs in Europa wurden global ausgetragen, sobald sich die Möglichkeit dazu bot. Das ist vorbei, das ist positiv. Aber damit ist den alten europäischen Mächten meines Erachtens auch die Grundlage jeder Machtpolitik entzogen. Ich glaube nicht, dass einzelne europäische Nationen – und jetzt reden wir nur von den drei Großen, Frankreich und Großbritannien als Sicherheitsratsmitgliedern und Deutschland als der stärksten Wirtschaft in Europa – heute noch jene Größenordnung erreichen, die im 21 . Jahrhundert wirklich entscheidet. Gewicht hat Europa nur als Ganzes. Aber dieses Europa ist jetzt in seiner schwersten Krise seit dem Beginn des europäischen Einigungsprojekts, und ich sehe bei den gegenwärtigen politischen Führungen der Mitgliedsstaaten – vorneweg Deutschland und Frankreich – nicht
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