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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Polen, Tschechien und Ungarn. Fällt aus der Perspektive des Jahres 2013 Ungarn nicht eindeutig zurück?
    FISCHER:
    Aus meiner Sicht wird Orbán die Ungarn ein weiteres Jahrzehnt kosten, weil er aus persönlichen und innenpolitischen Gründen auf Renationalisierung setzt – übrigens auch in der Wirtschaft, wenn man die Automobilindustrie ausklammert. Das mag für eine gewisse Zeit die innenpolitische Macht stabilisieren, aber für Ungarn ist es ein, wie ich finde, tragischer Rückfall. In der Frage einer Revision von Trianon sind nämlich alle anderer Meinung als die Ungarn. Eine Revision von Trianon wird es nicht geben, aber damit spielt Orbán, und insofern isoliert er Ungarn. Vergleicht man Ungarn mit der Slowakei, ist die Slowakei weit voraus – bei allen Problemen, die die Slowakei auch hat.
    SCHMIDT:
    Ihre Erwähnung von Trianon, das war 1920 einer der so genannten Pariser Vorortverträge …
    FISCHER:
    … spielt heute in Ungarn nach wie vor eine zentrale Rolle.
    SCHMIDT:
    … muss eine Riesenrolle spielen, denn niemand ist in den Pariser Vorortverträgen schlechter behandelt worden als die Ungarn. Die Slowakei, das Burgenland, Kroatien, Dalmatien, Slawonien, das Banat, Siebenbürgen – all das haben sie damals verloren.
    FISCHER:
    Aber alle anderen sind der Meinung, dass eine Revision von Trianon nicht infrage kommt. Alle anderen, alle direkten und indirekten Nachbarn – von den Großmächten ganz zu schweigen.
    SCHMIDT:
    Ich bleibe dabei: Es gibt niemanden, der noch schlechter behandelt worden ist als die Ungarn in den Pariser Vorortverträgen – einschließlich uns Deutschen. Wir Deutsche sind glimpflich davongekommen, wenn man den Versailler Vertrag ins Verhältnis setzt zu der Art und Weise, wie mit den Ungarn umgegangen wurde.
    FISCHER:
    Was den Versailler Vertrag angeht, habe ich eine klare Haltung. Er war für die Deutschen hart, aber er war nicht hart genug, wenn man bedenkt, dass die Militärkaste unbeschadet davongekommen ist und zwanzig Jahre später Europa erneut in einen Weltkrieg stürzte.
    SCHMIDT:
    Der Versailler Vertrag war in sich falsch, weil er einen falschen Ansatz verfolgte, nämlich die dauerhafte Marginalisierung Deutschlands. Aber ich stimme Ihnen zu: Wenn man dieses Ziel verfolgte und Deutschland auf Dauer kleinhalten wollte, hätte man konsequenter sein müssen. – Bleiben wir noch kurz bei Trianon. Es gibt viele Ungarn in der Slowakei, es gibt noch mehr Ungarn auf rumänischem Boden und auf serbischem Boden – wenn nicht auch auf bosnischem Boden, das weiß ich nicht; wahrscheinlich gibt es auch Ungarn in Slowenien und Kroatien.
    FISCHER:
    Kroatien ja, Slowenien weiß ich nicht. Ein großes Problem zwischen den drei Ländern bis heute ist jedenfalls die starke ungarische Minderheit in der Südslowakei, die mehrere Hunderttausend Köpfe zählt, und in Rumänien. Die Geschichte spielt da eine wichtige Rolle, und was von außen ähnlich erscheint, erweist sich bei näherer Betrachtung oft als sehr unterschiedlich.
    DIE ZEIT:
    Und bringt oft unerwartete Antworten hervor. Hat 1989 irgendjemand damit gerechnet, dass sich die Tschechoslowakei aufspaltet?
    FISCHER:
    (an Schmidt gewandt)
Haben Sie damit gerechnet? Ich nicht.
    SCHMIDT:
    Nein.
    DIE ZEIT:
    Wie ist es aus Ihrer Sicht zu erklären, dass die drei Länder, von denen Sie zu Recht gesagt haben, sie müssten als erste nach Europa – Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei –, einen so unterschiedlichen Weg gegangen sind? Hat wenigstens Polen die Erwartungen erfüllt?
    SCHMIDT:
    Polen ist durch die Situation nach den beiden Weltkriegen in eine spezielle Bredouille gebracht worden. Aus Sorge vor übermächtigen Nachbarn sowohl an ihrer West- als auch an ihrer Ostgrenze richtete sich die Hoffnung der Polen auf Amerika. Die Polen haben schon immer gern nach USA geguckt; wenn Sie nach Milwaukee gehen oder nach Chicago, da wimmelt es von Polen. Aus dieser Sorge vor zwei übermächtigen Nachbarn hat sich vor allem in den ersten Jahren nach der Wende mancher europakritische, nationalistische Ton eingeschlichen – denken Sie an die Reden der Brüder Kaczynski.
    FISCHER:
    Also ich finde, Polen ist beeindruckend und wird – das dauert noch eine Zeit – in Europa eine wichtige Rolle spielen. Da Sie die Kaczynskis angesprochen haben: Als die regierten, haben sich die Deutschen – und zwar ohne dass je darüber geredet wurde und über alle Parteigrenzen hinweg – sehr klug verhalten, indem sie nichts sagten. Es gab

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