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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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traditionelle Rolle aufgegeben hat, war, als Angela Merkel sagte, in dieser Krise muss jeder für sich selbst zu Hause aufräumen. Das war der Beginn jener unseligen Renationalisierung, die wir heute überall in der EU finden können. Das war für mich der entscheidende Moment. Und was meinen Sie mit französischer Schwäche? Wir unterschlagen gern den französischen Anteil – wir zahlen nicht allein! Den zweitgrößten Anteil bestreitet Frankreich, aber das nimmt hierzulande kaum noch jemand wahr. Und Italien den drittgrößten in der Währungsunion.
    Herr Schmidt hat in dem ersten Aufsatz, der in diesem Band veröffentlicht wird, am Beispiel des Ruhrstatuts nachvollziehbar gemacht, um was es geht: um die Integration Deutschlands in ein gemeinsames Europa. Statt einer nationalistischen oder revanchistischen Alternative haben Sie eine Integrationsidee entwickelt, die das Ruhrstatut als Instrument begriffen hat für eine Vergemeinschaftung der strategisch wichtigen Stahl- und Montanindustrie, wie es ja dann auch historisch der Fall war. Die europäische Idee machte sich damals letztendlich an der Überwindung des deutsch-französischen Widerspruchs, an der Überwindung dieser Erbfeindschaft fest. Und daran hat sich meines Erachtens durch alle Erweiterungsrunden hindurch nichts verändert, das gilt bis heute.
    DIE ZEIT:
    Alles, was Sie sagen, würde Frau Merkel sofort unterschreiben – nichts ohne Frankreich.
    SCHMIDT:
    Da bin ich mir nicht sicher. Eines der aktuellen Probleme Europas ist die enorm hohe Jugendarbeitslosigkeit; in Spanien sind mehr als 50 Prozent aller jungen Leute ohne Arbeit, und das Gleiche gilt für Griechenland, das Gleiche gilt
nota bene
für Zypern, und auch in Italien gibt es mindestens 35 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Das ist das akute Problem. Was notwendig wäre, wäre ein gemeinsames europäisches Programm, um der Jugendarbeitslosigkeit zu Leibe zu rücken. Das ist eine Zeitbombe, von der man nicht weiß, wann sie explodiert, aber dass sie explodieren könnte, davon bin ich leider überzeugt. Und ich bin davon überzeugt, dass man gemeinsam etwas tun müsste. Aber Frau Merkel ist davon nicht überzeugt. Frau Merkel ist der Meinung, die Südländer sollten gefälligst ihren Arbeitsmarkt und ihre Sozialversicherung und ihr Ausbildungssystem auf richtige Füße stellen, jeder nach seinem eigenen Gusto. – Wenn ich noch ein Wort zur Führungsverantwortung sagen darf: Deutschland ist zu schwach, um zu führen, nicht so sehr aus ökonomischen Gründen oder aus demographischen Gründen, sondern zu schwach wegen Auschwitz und wegen der fabrikmäßigen Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden. Deutschland ist zu schwach wegen dieser entsetzlichen Erbschaft. Das Problem der Deutschen ist zu führen, ohne als Führer zu erscheinen.
    FISCHER:
    Und dafür ist Europa die perfekte Bühne! Wenn wir unsere nationalen Interessen zu europäischen machen und sozusagen als die Promotoren für Europa erscheinen, tun wir für uns selbst das Beste, auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. Das geht mal leichter, mal weniger leicht, Europa ist nie nur die Summe seiner Teile. Aber wenn man nur seinen nationalen Standpunkt durchsetzen will und nicht bereit ist, dem anderen zuliebe einen Schritt zu machen – wie Sie eben am Beispiel Ihres Disputs mit Giscard wegen Griechenland gezeigt haben –, dann wird es schwer.
    Die Jugendarbeitslosigkeit ist ein besonders dramatischer Teil einer allgemeineren Krise. Ich sehe nicht, wie die Krisenländer wirklich rauskommen sollen aus einer langfristigen Rezession oder gar Depression, ohne dass man zum Beispiel eine Altschulden-Regelung ins Auge fasst. Jetzt haben wir das Paradox: Je mehr die Griechen sparen, desto tiefer geraten sie in die Verschuldung, weil durch die Austeritätspolitik die Wirtschaft schrumpft und damit die Schulden ansteigen. Die Altschulden-Regelung ist eine Frage, die von uns permanent vertagt wird, aus Gründen, die auf der Hand liegen – das würde etwas kosten. Genauso brauchen wir eine gemeinsame Neuverschuldungsperspektive, also das, was sich hinter dem Begriff Eurobonds verbirgt, oder wie immer man das Kind auch nennen mag. Sonst werden die Krisenländer im Süden tiefer in die Verschuldung rutschen, und damit wird die Depression zunehmen. Und genauso wenig wie aus Mecklenburg-Vorpommern Baden-Württemberg wird oder aus Sachsen-Anhalt Bayern, genauso wenig werden Portugal oder Griechenland eine deutsche Automobilwirtschaft

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