Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Staaten Europas regten sich die Dissidenten unter dem Banner der Menschenrechte und der Freiheit; ihr späterer Durchbruch bereitete sich überall vor.
Gleichzeitig aber verfolgte Moskau auch nach Helsinki mit Macht seine imperialistische Strategie: in Afrika und im Mittleren Osten; mit enormen Waffenlieferungen in vielerlei Himmelsrichtungen; durch den schnellen Aufbau einer gewaltigen Flotte von nuklearen Mittelstreckenraketen (dem Massenvernichtungsmittel SS - 20 , das zur Hauptsache auf Deutschland gerichtet war, aber auch auf China); schließlich mit dem militärischen Einmarsch in Afghanistan.
Es hat in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre langer Überzeugungsarbeit bedurft, um die Administration Jimmy Carters zur Einsicht zu bewegen, dass das Risiko, mittels der sich anbahnenden hohen sowjetischen Überlegenheit auf dem Felde der nuklearen Mittelstreckenwaffen genötigt, erpresst oder gedemütigt zu werden, für Deutschland und seine Menschen unannehmbar war. Washington war damals mit einem ungefähren Gleichgewicht bei nuklearen Langstreckenwaffen (»strategischen Waffen«) zufrieden; die Waffen von Mittelstreckenreichweite konnten amerikanische Städte nicht gefährden. Erst die Mit-Betroffenheit Frankreichs unter Giscard d’Estaing und Großbritanniens unter James Callaghan führte 1979 auf Guadeloupe zum sogenannten NATO -Doppelbeschluss. Er bot erstens den Sowjets Verhandlungen an zum Ziele der beiderseitigen Reduzierung und schließlichen Beseitigung nuklearer Mittelstreckenwaffen; er kündigte zweitens an, der Westen werde, falls nach Ablauf von vier Jahren kein Verhandlungsergebnis erzielt sei, westlich der europäischen Trennlinie zusätzlich nukleare Mittelstreckenraketen (im wesentlichen Pershing II ) stationieren.
Die sowjetische Führung unter Breschnew lehnte zunächst alle Verhandlungen darüber ab und hoffte, die deutsche Friedensbewegung und die linke außerparlamentarische Opposition in Deutschland würden die Ausführung des zweiten Teils des NATO -Doppelbeschlusses verhindern. Tatsächlich aber haben diese Kräfte sich nicht durchsetzen können. Sie haben lediglich zum Sturz der sozial-liberalen Koalition in Bonn einiges beigetragen. Danach haben auch Brandt, Bahr und große Teile der Sozialdemokratie öffentlich ihre Ablehnung des Doppelbeschlusses bekundet.
Breschnews Nachfolger Andropow, 1982 ins Amt gekommen, wäre möglicherweise in den Verhandlungen flexibler und eher kompromissbereit gewesen; aber er lebte nur noch anderthalb Jahre. Deshalb konnten die konservativen Kader im Politbüro und im Militär noch bis Mitte der achtziger Jahre bei ihrer nach Überlegenheit strebenden Linie bleiben – auch dann noch, als nach 1983 der Westen angesichts der Ergebnislosigkeit der Verhandlungen die zweite Hälfte des Doppelbeschlusses verwirklichte.
Erst Gorbatschow gewann schließlich die Einsicht, dass die seit Jahrzehnten anhaltende enorme Überforderung aller sowjetischen Ressourcen und der seelischen, physischen und ökonomischen Kräfte der Völker der Sowjetunion durch einen den ganzen Erdball umspannenden Imperialismus beendet werden müsste. So kam es zum INF -Vertrag (intermediate nuclear forces) mit den Vereinigten Staaten und damit zur beiderseitigen Verschrottung aller nuklearen Mittelstreckenraketen, die ich seit 1979 angestrebt hatte. Dieser Vertrag war der erste echte Abrüstungsvertrag der Weltgeschichte, der zwischen zwei gleichberechtigten Partnern ausgehandelt worden ist. Der INF -Vertrag wurde zum abrüstungspolitischen Durchbruch; ihm sind seither weitere weitreichende Abrüstungsverträge gefolgt.
Gorbatschow wollte das kommunistische System der Sowjetunion reformieren, um es zu revitalisieren. Beides ist inzwischen total misslungen. Dabei hatte Gorbatschows Beginn durchaus Erfolgsaussicht. Man tut ihm (und Schewardnadse) gewiss nicht unrecht, wenn man sagt, die Freigabe der Autonomie und dann der Souveränität der Staaten im Osten Mitteleuropas sei nicht bloß humanitären Motiven entsprungen. Vielmehr war in den zehn Jahren seit Helsinki der Gärungsprozess in diesen Ländern schon so weit fortgeschritten, dass er – nach der Einführung der Meinungsfreiheit in der Sowjetunion – nur noch unter flagranter Verletzung des von Gorbatschow selbst verkündeten Glasnost-Prinzips und nur noch unter Einsatz militärischer Gewalt hätte gestoppt werden können.
Nachdem der Kreml zugelassen hatte, dass die demokratischen Kräfte in Polen, in Ungarn und in der
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