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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Tschechoslowakei Handlungsfreiheit erhielten, war es fast zwangsläufig, dass er auch die DDR freigab. Dabei ist die Zulassung der Vereinigung der beiden deutschen Staaten gewiss auch von der Erwartung massiver westdeutscher Finanzhilfen gefördert worden. Gorbatschow hat versucht, aus der Not eine Tugend zu machen. Jedenfalls dies ist ihm gelungen – zum Glück unserer Nation, zum Glück auch Helmut Kohls.
    Die Meinungsfreiheit in den Republiken der bisherigen Sowjetunion ist heute größer, als sie jemals gewesen ist – seit den Zeiten Iwans des Schrecklichen. Man darf der Schlussakte von Helsinki einen großen Anteil daran zumessen.
    Dagegen nähert sich die ökonomische und soziale Entwicklung der katastrophalen Situation am Ende der beiden Weltkriege. Einer der beiden Hauptgründe dafür ist der bodenlose ökonomische Dilettantismus, mit dem die wirtschaftliche Perestroika – bei enormen strukturellen und ideologischen Widerständen – ins Werk gesetzt wurde. Der andere Hauptgrund liegt in einer irrsinnigen Geldpolitik, die nur noch mit einigen lateinamerikanischen Fällen vergleichbar ist – überall in den Republiken wird das Geld in ähnlichem Tempo gedruckt und in Umlauf gebracht wie bei uns die Morgenzeitungen.
    Die staatspolitische Transformation der Sowjetunion in einen Staatenbund (oder Commonwealth oder was auch immer) wirft aber nicht nur die Frage auf, wie zukünftig die Wirtschaft funktionieren soll und wie die wirtschaftliche Zusammenarbeit der Republiken zu bewerkstelligen ist. Sie stellt auch eminent verfassungspolitische Fragen. Zum Beispiel die Frage, wer denn das sowjetische Vetorecht im UN -Sicherheitsrat erben soll oder darf – und die überlebenswichtige Frage nach der Kontrolle über fast 30 000 nukleare Waffen, die über viele der Republiken verteilt sind.
    Der Kollaps einer Weltmacht kann Auswirkungen nach außen haben, die sich über eine Reihe von Jahrzehnten erstrecken. Dies zeigen mindestens sechs große Kriege im Mittleren Osten seit dem endgültigen Ende des Osmanischen Reiches vor heute über siebzig Jahren; ebenso der Krieg innerhalb des bisherigen Bundesstaates Jugoslawien, siebzig Jahre nach dem Ende der Habsburger Doppelmonarchie; ebenso die gefährdete und beargwöhnte Isolation Japans, mehr als vier Jahrzehnte nach der totalen Niederlage des japanischen Militär-Imperiums. Auch die totale Zerschlagung von Hitlers »Drittem Reich« hat Wunden, Ängste und Ressentiments bei unseren Nachbarn und in unserem eigenen Volk hinterlassen, die noch keineswegs vollständig verheilt oder überwunden sind.
    Es bedarf nicht allzu großer Voraussicht, um nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums ähnlich langdauernde und ähnlich weitreichende Wirkungen zu erwarten. Freilich sind diese gegenwärtig noch kaum abzuschätzen oder einzuordnen.
    Immerhin sind heute aber drei gewaltige Veränderungen zum Besseren zu konstatieren:
    1 . Die Angst vor einem großen Krieg zwischen Ost und West ist fast ganz verschwunden.
    2 . Auch gegenseitiger Hass ist auf dem tiefsten Stand seit fast einem halben Jahrhundert.
    3 . In Ost und West gibt es nun eine früher ungeahnte Bereitschaft zur Zusammenarbeit.
    All dies zusammen bedeutet eine große Chance – sowohl für Gorbatschows Nachfolger Jelzin, Krawtschuk und andere an der Spitze der Republiken als auch für die Staatsmänner des Westens.
    Aber ebenso ist aus mehrerlei gewichtigen Gründen Vorsicht geboten. Denn das gegenwärtig sich noch vertiefende ökonomische und soziale Desaster in allen Republiken der ehemaligen Sowjetunion kann zu politischen Explosionen führen. Es kann Neid und Eifersucht zwischen den Republiken des künftigen Commonwealth auslösen. Als Folge sind weder kleinere noch größere bewaffnete Konflikte auszuschließen, ebenso wenig größere Wanderungsbewegungen von Wirtschaftsflüchtlingen. Es gibt fast unzählbare Minderheitsprobleme in allen Republiken. Vor allem können religiös-kulturelle Konflikte mit den mindestens fünfzig Millionen Muslims entstehen, die vornehmlich in Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan und Aserbaidschan leben. Es gibt religiöse Affinitäten zu türkischen und iranischen Glaubensbrüdern, Sunniten wie Schiiten. Mehrere muslimisch geprägte Staaten des Mittleren Ostens und Südwestasiens entdecken bereits ihre Interessen an den zentralasiatischen Republiken der früheren Sowjetunion – auch daraus können Konflikte entstehen.
    Schließlich sind politische Konflikte zwischen

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