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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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den Nachfolge-Republiken nicht auszuschließen, zumal Russland mit seinem Territorium vom Pazifischen Ozean (Wladiwostok) bis zur Ostsee (St. Petersburg, Königsberg) und mit seinen rund 150  Millionen Menschen ein von allen anderen beargwöhntes Übergewicht besitzt. Die Ukraine hingegen (gut fünfzig Millionen Menschen) hat bisher aufgrund ihrer herausragenden Produktivität fast alle anderen Republiken mitversorgt und erscheint diesen deshalb als unentbehrlich. Staatsstreiche, die Errichtung von Diktaturen oder Versuche dazu sind nirgendwo endgültig auszuschließen.
    Angesichts solcher denkbaren Gefahren bleibt also westliche Vorsicht die Mutter der Porzellankiste. Es ist möglich, dass die Staaten westlich der bisherigen Sowjetunion deshalb zu einer mehr klassischen europäischen Gleichgewichtspolitik nach Vorbildern des 19 . Jahrhunderts zurückkehren; dazu mag dann auch die auf Jahrzehnte als unruhig zu erwartende Lage auf der Balkan-Halbinsel beitragen.
    Zu wünschen ist jedoch, dass die Europäische Gemeinschaft – schon heute das ökonomische Gravitationszentrum Europas – zum politischen Stabilitätsanker unseres Kontinents wird. Dies würde eine gemeinsame Währung voraussetzen und die schrittweise Entfaltung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik einschließen, also auch: gemeinsame Streitkräfte, selbstverständlich unter dem Dach des Verteidigungsbündnisses mit den USA und Kanada. Die EG würde alle jene Staaten Nord- und Ostmitteleuropas aufnehmen, welche dies wünschen und zugleich in puncto demokratische und wirtschaftlich-soziale Ordnung sowie in puncto Menschenrechte alle Anforderungen erfüllen, welche die EG als selbstverständlich verlangen muss.
    Solche Entfaltung und Erweiterung der EG hätte mehrere Ziele zugleich zu verfolgen:
    1 . Schaffung eines großen europäischen Wirtschaftsraumes, der nicht nur dem Namen eines gemeinsamen Markts tatsächlich gerecht wird, sondern der vor allem den Menschen in allen Mitgliedsstaaten einen großen Anstieg ihres Wohlstandes ermöglichen wird.
    2 . Wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der ganzen Welt, besonders auch mit den Republiken der bisherigen Sowjetunion.
    3 . Nach wie vor Abschreckung von militärischer Pression und Aggression durch Bereitschaft und Fähigkeit zur gemeinsamen Verteidigung.
    4 . Sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit den europäischen Staaten außerhalb von EG und NATO , vor allem zum Zweck weiterer Rüstungsverminderung. Heute ist der Eintritt der Republiken in die rechtliche Nachfolge hinter der Sowjetunion als Unterzeichner sowohl bereits bestehender als auch fertig ausgehandelter, aber noch nicht in Kraft getretener Abrüstungsverträge (so des 1990 ausgehandelten Vertrages über konventionelle Abrüstung in Europa – KSE -Vertrag) für den Westen wichtiger als die Frage, wer die von der Sowjetunion eingegangenen Auslandsschulden und ihre daraus resultierenden Zahlungsverpflichtungen übernimmt; diese werden ohnehin Not leidend.
    5 . Einbindung des Achtzig-Millionen-Staates Deutschland, vor dessen Größe und Einfluss bei vielen unserer Nachbarn in West und Ost ein größerer Argwohn besteht, als uns Deutschen und besonders der Bundesregierung (und Bundesbank) bewusst ist.
    6 . Schaffung eines Gegengewichts gegenüber der ansonsten unerreichbaren finanzwirtschaftlichen, ökonomischen und strategischen Übermacht der uns befreundet und verbündet bleibenden Vereinigten Staaten. Nur bei einigermaßen gleichgewichtigen Größenordnungen wird auf die Dauer eine partnerschaftliche Zusammenarbeit möglich bleiben. Dies gilt mutatis mutandis auch für die Kooperation der EG mit der finanziellen und wirtschaftlichen Supermacht Japan.
    Im Lichte der Vergangenheit wie der Zukunft erscheinen nicht nur das Nordatlantische Bündnis und seine Gleichgewichtsstrategie gerechtfertigt, sondern auch unsere in die EG eingemündete europäische Integrationspolitik. Die Harmel-Doktrin und die deutsche Ostpolitik, die Helsinki-Schlussakte, der KSZE -Prozess und die darin beharrlich verfolgte Ausbreitung der Menschenrechte sind gerechtfertigt, ebenso die Menschenrechtskampagne des ansonsten strategisch unglücklich operierenden Präsidenten Jimmy Carter. Es gibt keinen erkennbaren Grund zu einer fundamentalen Revision dieser politischen Grundlinien. Sie bleiben allesamt auch in Zukunft notwendig. Allerdings müssen sie jetzt ausgebaut und an die neu entstehenden Umstände angepasst werden.
    Vor der kommunistischen Ideologie

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