Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
nationalistischen Tendenzen von den liberal-modernistischen Strömungen kam. Diese für große Teile des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts bezeichnende Modernisierungspathologie beruhte auf einem leicht durchschaubaren, nichtsdestoweniger fast unwiderstehlichen psychopolitischen Mechanismus, der vor allem für den Weg der Deutschen in ihre von Verliererressentiments diktierte Katastrophe bestimmend werden sollte. Der Ausgang dieses ersten europäischen nation building -Experiments unter französischer Führung läßt im übrigen für analoge Unternehmen in unserer Zeit ähnlich schlechte Ergebnisse befürchten.
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2 André Glucksmann, Une rage d’enfant, Paris 2006, S. 104-127.
4 Italien 1918: Kriegsergebnisfälschung als große Politik
Ich will das Blickfeld im folgenden zunächst auf die Nachkriegszeiten des 20. Jahrhunderts beschränken. Dabei sollen die deutschen und die französischen Entwicklungen nach 1945 und deren mögliche Korrelationen in den Vordergrund treten. Um den begrifflichen Rahmen der jetzt konkreter werdenden Untersuchung zu erläutern, der zum Verständnis der Vorgänge unentbehrlich ist, ist es nötig, ein analytisches Intermezzo einzuschalten, das sich mit den folgenschweren Anomalien der Nachkriegszeit seit 1918 befaßt. Hierbei haben wir das Augenmerk auf den Fall Italiens zu lenken, da sich an ihm der Schlüsselbegriff der weiteren Überlegungen, das Konzept der »Kriegsergebnisfälschung«, zum ersten Mal in aller Deutlichkeit materialisiert. Wir hatten oben im Anschluß an das Mühlmannsche Modell der post-stressorischen Decorum-Revision an die Gesetzmäßigkeit erinnert, der zufolge eine Kultur nach geschlagenen Schlachten die Gelegenheit erhält, ihre normativen Grundeinstellungen, man könnte auch sagen ihre moralische Grammatik, im Licht der Kampfergebnisse zu re-evaluieren und gegebenenfalls zu revidieren. Die Eckwerte dieser Prüfungsarbeit heißen im Fall des Sieges Affirmation, im Fall der Niederlage Metanoia.
Nun befanden sich die Italiener von 1918 in einer Lage, auf die sich die bezeichnete Alternative nicht ohne weiteres anwenden ließ. Bekanntlich war Italien im August 1914 aus der 1882 geschlossenen Allianz mit Deutschland und Österreich-Ungarn (dem sogenannten Dreibund) ausgeschieden und hatte eine ambivalente Neutralität verkündet. Etwas später war es aufgrund des Geheimvertrags von London (der im Fall des Sieges große territoriale Gewinne für Italien in Aussicht stellte) mit der Kriegserklärung vom Ende Mai 1915 an Österreich-Ungarn ins Lager der Alliierten übergetreten. Das Kriegsglück war jedoch trotz heroischer Opfer nicht auf italienischer Seite. Nur dank massiver alliierter Hilfe fand sich Italien, obschon militärisch völlig aufgerieben und politisch am Rande des Zusammenbruchs (besonders nach der verheerenden Niederlage in der 12. Isonzoschlacht bei Tolmein im Oktober 1917), bei Kriegsende auf der Seite der Sieger wieder.
Aus der Zweideutigkeit dieser Lage erklären sich die folgenschweren Wirren der italienischen Nachkriegsgeschichte. Man sprach damals von einer vittoria mutilata , einem verstümmelten Sieg, man hätte richtiger von einer in Sieg umgefälschten Niederlage reden sollen. Begreiflich ist daher, warum sich Italien nur zu einer halben Metanoia aufraffte. Deren Ansätze manifestierten sich in den Anfangserfolgen der Sozialisten 1919 und 1920, indessen eine neu entstandene ultranationalistische Partei umgehend zu einer heroischen Hyper-Affirmation aufrief. Die neue Tendenz sollte sich in kürzester Zeit durchsetzen – Mussolini errang bei Wahlen im Januar 1924 nicht weniger als 66 % der Stimmen.
Diese Situation, die den heftigsten Formen von leugnerischer Affirmation Vorschub leistete, bereitete jener Politik des reinen Aktivismus den Boden, jener Mobilmachung um der Mobilmachung willen, die unter dem Namen »Fascismus« in die Geschichte eingegangen ist. Kaum eine der unzähligen Untersuchungen, die dem Gegenstand gewidmet wurden, rückt den Grundsachverhalt mit der gebührenden Deutlichkeit ans Licht – nämlich daß der primäre »Fascismus« aus einer Fälschung des Kriegsresultats entsprang, bei welcher sich der tatsächlich oder virtuell Besiegte als Dennoch-Sieger, ja als Über-Sieger präsentierte. Er wollte sich so der Illusion hingeben, die Arbeit der Revision am kulturellen Decorum umgehen zu können und sie durch eine Verstärkung des zum Mißerfolg führenden Musters zu ersetzen. Um allgemein zu reden, beweist
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