Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
dies nur: Gerade diejenigen, die am meisten Grund zu einer metanoetischen Wende gegen die bisher gültigen Regeln hätten, stürzen sich oft am wütendsten in die Affirmation der Werte, die sie zur Beinahe-Katastrophe verleitet hatten. Daß dies ebenso für die extreme deutsche Rechte der Weimarer Republik gilt, braucht nicht ausführlich nachgewiesen zu werden. In Deutschland hatte die Fälschung des Kriegsergebnisses schon kurz nach dem November 1918 mit der berüchtigten Legende vom »Dolchstoß« in den Rücken des angeblich unbesiegten Heeres eingesetzt und ab 1933 die bekannten Konsequenzen gezeitigt.
Im Licht dieser Überlegungen erscheint der ursprüngliche »Fascismus« nicht nur als die oft konstatierte Übertragung des modernen Kriegsstils auf den modus operandi der Gesamtkultur und eo ipso als die Aufhebung der Differenz von Krieg und Frieden unter dem Vorzeichen der permanenten Mobilisierung. Vielmehr verrät er seine psychopolitische Natur als eine Form mutwilliger Kriegsergebnisfälschung und Metanoia-Verweigerung. Seine Erkennungszeichen sind der Triumphalismus der Verlierer und die forcierte Affirmation des heroistischen Codes durch diejenigen, die angesichts ihrer frischen Erfahrungen besser beraten gewesen wären, ihre Beziehung zum Regelwerk des heroischen Lebens einer radikalen Revision zu unterziehen.
5 Frankreich 1945: Die doppelte Fälschung
An dieser Stelle meiner Ausführungen kann ich das Stadium der Vorbetrachtungen und der Explikation der theoretischen Prämissen verlassen und mich dem eigentlichen Gegenstand dieses Versuchs, der vergleichenden Untersuchung der deutschen und der französischen Nachkriegszeiten ab 1945, zuwenden. Von Anfang an springt hier die Vergleichbarkeit der französischen Position nach 1945 mit der italienischen von 1918 ins Auge. Denn so wie die Alliierten vom November 1917 an für die Italiener eine letzte Front errichtet hatten, damit sie bis zum Tag der deutschen Kapitulation durchhielten, trugen die Alliierten die realen Kriegslasten für die Franzosen – bis zu jener unvergeßlichen Libération am 25. August 1944, als de Gaulle an der Spitze improvisierter eigener Truppen einen triumphalen Einzug in Paris hielt. Obwohl, oder besser: gerade weil die französische Niederlage von 1940 um vieles eindeutiger ausgefallen war als die italienische von 1917, geriet die Einreihung der Franzosen (die nur in Jalta fehlten) unter die Siegermächte um vieles auffälliger als die der Italiener nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Letzteren hatte man in den Friedensverhandlungen von 1919 bloß eine untergeordnete Rolle zugestanden. Vor allem ist man von der Analogie zwischen den italienischen und den französischen Verlegenheiten frappiert, wenn man sie in der Perspektive des Modells der post-stressorischen Selbstevaluierung betrachtet: In dem einen wie in dem anderen Fall ist nach dem geschenkten Sieg ein anfängliches Schwanken zwischen den metanoetischen und den affirmativen Tendenzen konstatierbar, ein Schwanken, das schließlich im Sinn einer mehr oder weniger umfassenden Kriegsresultatsfälschung stillgestellt wird.
Immerhin darf man sagen, daß die Franzosen bei ihrer Stress-Schatten-Arbeit nach 1945 allen Neigungen zur Verkehrung der Fakten zum Trotz Glück hatten, weil ihre Form der nationalen Rekonstruktion zu guter Letzt »nur« den Gaullismus an die Macht beförderte. Der triviale Satz »de Gaulle war nicht Mussolini« nimmt in diesem Kontext eine abgründige Bedeutung an. Er markiert bei allen Ähnlichkeiten den Abstand zwischen den Nachkriegsreaktionen beider Völker. Während die Italiener aus dem großen Übel der Beinahe-Niederlage ein noch größeres machten, indem sie die Flucht nach vorn antraten, wählten die Franzosen, nach dem unentschiedenen Zwischenspiel der Vierten Republik, das kleinere Übel, die gaullistische Therapie. Überdies stieß die französische Interpretation der Niederlage von 1940, die sich mirakulös zum Sieg von 1945 wandelte, von vorneherein nicht auf die Zustimmung aller Lager. Parallel zur gaullistischen Evasion in die nationale Affirmation entwickelte die französische Linke eine zweite Fälschungsfront, nach welcher Frankreich – wir dürfen jetzt, deutsche Analogien weckend, das »bessere Frankreich« oder das Frankreich der résistance sagen – den Krieg an der Seite Stalins und der Roten Armee gewonnen haben wollte.
Allein im Rahmen der skizzierten Theorie der Nachkriegszeiten wird verständlich, wie nach 1945 die
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