Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
müssen. In der Folge entstand ein rhetorischer Apparat zur Artikulation von triumphalem Selbsthaß und hypermoralischer Aggression gegen die nationalen und bürgerlichen Traditionen, der im eigenen Land wie im Ausland eingesetzt werden konnte.
Am zweiten Herd der Siegesfälschung erlangte rasch eine kulturelle Szene die Hegemonie, die den Militantismus zu ihrem Markenzeichen erhob. Sie brachte es fertig, das Wort »engagiert« in aller Welt zum Synonym für französische Intellektualität zu machen. Mit ihm sollte künftig jede Form von Kollaboration an den Pranger gestellt werden, einschließlich der Kollaboration mit den elementaren Tatsachen. Diese kämpfende Kirche des nachträglichen Widerstands verstand es, sich als generelle Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und des spätkapitalistischen Zeitalters zu entfalten, indem sie den Marxismus, die Semiologie und die Psychoanalyse zu einem suggestiven Amalgam vermischte. Die Exporterfolge der französischen Theorieliteratur, die bis in die neunziger Jahre anhielten, beruhten vor allem auf ihrem polemischen Gebrauchswert für die analogen kritischen Subkulturen der Importländer, namentlich in Italien und Deutschland. Besonders heftig wurde sie in den USA willkommen geheißen, als die junge Intelligenz des Landes nach dem Vietnam-Debakel bereit war, eine Fremdsprache zu lernen, um radikal kritisch über die eigene Kultur zu reden. Noch heute können die Reste dieser Produktionen in amerikanischen Campusbuchhandlungen unter den Rubriken French Theory oder Critical Theory erworben werden.
Auf diesen Regalen, und nur auf ihnen, hat im übrigen das einzige Phänomen stattgefunden, das es vielleicht verdient, eine französisch-deutsche Beziehung zu heißen – es ist die Konvergenz zwischen diesen alleserklärenden diskursiven Maschinen, die man auf beiden Seiten des Rheins in suggestiven Ausarbeitungen finden konnte und mit denen man bis vor kurzem die jungen Leute lehrte, die bestehenden Verhältnisse zu durchschauen und zu verwerfen, als hätten sie nicht selber an ihnen Anteil. Da aber die analogen Diskurse der deutschen Selbst- und Weltkritik nach 1945 in einem ganz anderen Kontext entstanden waren und in einem völlig anderen Klima funktionierten als die französischen, muß selbst diese scheinbar enge Affinität als das Produkt eines Mißverständnisses gewertet werden.
Was die französische von der deutschen Kritik unterscheidet, ist ihre grundverschiedene Art der kulturellen Einbettung und – damit verbunden – ihre diametral entgegengesetzte wahrheitspolitische Tendenz. Während die deutsche Kritik zu einer Population sprach, die allen widerstrebenden Tendenzen zum Trotz nicht leugnen konnte, im Sinne der Anklage schuldig zu sein, richtete sich die französische Kritik an eine Gesellschaft von seltsamen Freigesprochenen, denen man ihre drôle de libération erläuterte. Mag sein, daß deswegen das intellektuelle Deutschland die einzige Weltgegend ist, in der noch eine altmodische Korrespondenztheorie der Wahrheit dominiert. Hier heißt die Niederlage Niederlage (und das Verbrechen Verbrechen) – und an diesem semantischen Ur-Meter werden alle übrigen Wörter gemessen. Nur hier herrscht noch die Religion des objektiven Referenten. Das intellektuelle Frankreich bevorzugt die politisch elegantere und rhetorisch reizvollere Position, nach welcher die Wörter und die Dinge getrennten Ordnungen angehören.
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3 Vgl. Tony Judt, Past Imperfect. French Intellectuals 1944-1956, Berkeley, Los Angeles, Oxford 1992.
6 Deutschland 1945: Metanoia
Naturgemäß hatte auch die deutsche Bevölkerung nach 1945 eine Fülle von Arbeiten zu erbringen, die sich summarisch mit dem Begriff »Wiederaufbau« umschreiben lassen. Diese prioritäre Orientierung hatte sie mit den besiegten und befreiten Franzosen gemeinsam, wenn auch auf völlig andere Weise. In seinen deutschen Konnotationen betont das Wort den materiellen Aspekt der Beseitigung von Kriegsschäden – die sprangen aufgrund des alliierten Bombenkriegs überall ins Auge. Es bezeichnete darüber hinaus die Summe der Anstrengungen, denen sich die Deutschen unterzogen, um moralisch und kulturell wieder auf die Beine zu kommen. Freilich war Adenauer nicht de Gaulle – auch dies ein trivialer Satz mit abgründigen Implikationen. Der Name des ersten deutschen Kanzlers steht für eine nationale Rekonstruktion, die mit den affirmativen Künsten des Gaullismus wenig gemeinsam hat. Er symbolisiert die pragmatische und
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