Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
vielfach kommentierte Spaltung der überpolarisierten politischen Lager, dieser hermeneutische gallische Krieg zwischen der französischen Nachkriegsrechten und der französischen Nachkriegslinken, einen Konflikt zwischen zwei inkompatiblen Strategien der Kriegsergebnisfälschung darstellte.
An dieser Stelle bedarf es keiner ausführlichen Erklärung, wie sich der gaullistische Aufbruch in die Neo-Grandeur im einzelnen vollzog. Auch die Ansätze zu einer authentischen französischen Metanoia während der Vierten Republik müssen unerwähnt bleiben, die in erster Linie wegen der erneuten Demütigungen durch die Entkolonialisierungskonflikte in Indochina und Nordafrika scheiterte. Es muß genügen, auf das politische Hauptsymptom der französischen Reaktionsbildung hinzuweisen: Als de Gaulle im Jahr 1958 zum zweiten Mal als Retter an die Spitze des Staates zurückkehrte, diktierte er die bis heute gültige Verfassung der Fünften Republik, deren starke präsidentielle Fixierung für la grande nation ebenso problematisch werden sollte wie für die europäische Mitwelt. Die Überhöhung des Präsidentenamts ergibt nur Sinn, wenn man unterstellt, daß das Elysée ein europäisches Weißes Haus sein wollte – oder, um nähere Muster heranzuziehen, ein Mittelding zwischen Versailles und Bayreuth. Im Elysée-Palast war die Phantasie schon ein Jahrzehnt lang an der Macht, bevor die Studenten von Paris in einem unruhigen Monat Mai auf den Gedanken kamen, ihre Phantasie solle die herrschende ersetzen. Vollends verkörperte die Kommandogewalt des Präsidenten über die französische Nuklearwaffe (die seit 1964 einsatzbereite Force de dissuasion nucléaire ) die zugespitzteste Form einer post-stressorischen Affirmationsstrategie – in klinischer Terminologie würde man von einer kontraphobischen Kompensation sprechen.
Es wäre dennoch ungerecht, dem Werk des Generals, der kein Gaullist sein wollte, gewisse metanoetische Qualitäten rundweg abzusprechen – gegen eine einseitig affirmationistische Deutung spricht schon die eingangs erwähnte Szene in Reims. Auch die Tatsache, daß in seinem späteren Vokabular Begriffe wie détente , entente und coopération mit leitmotivischem Nachdruck auftauchten, verrät, welchen Weg er dem konservativen Part Frankreichs zur Revision seines kolonialistischen, imperialistischen und heroistischen Erbes aufzuzeigen versuchte. Die alte Rechte mit der republikanischen Moderne versöhnt zu haben wird eine seiner größten Leistungen bleiben.
Die ideengeschichtlich interessantere und ideologisch viel verführerische Form der Kriegsergebnisfälschung vollzog sich auf der anderen Seite der innerfranzösischen Front. Während der gaullistische Aufbruch in die semi-imperiale Affirmation weitgehend mit den Standardaffekten und Basisverfahren nationaler Selbstbetonung auskam, also mit patriotischer Selbstvergrößerung und waffentechnischer Modernisierung, vollzog sich im linken Lager eine ideologische und psychopolitische Wendung von unabsehbarer Tragweite. Hier entwickelte sich von 1944 an eine ideengeschichtlich singuläre Form pseudo-metanoetischer Literatur, deren Aufarbeitung noch kaum begonnen hat. 3 Sie löste zugleich einen massiven Import deutscher Philosophen aus, ob sie nun unter den Namen Hegel und Heidegger firmierten oder unter Marx, Nietzsche und Carl Schmitt. Dies geschah wie zur Illustration der von Kulturtheoretikern vorgebrachten Beobachtung, wonach die Romantiken blühen, wenn im Reich der Ideen die Kompensation einer politischen Niederlage auf der Tagesordnung steht.
Das Hauptverfahren der linken Kriegsergebnisfälschung war nicht, wie bei der rechten, die Flucht in die nationale Tradition der Größe, sondern die Flucht in die sozialistische Übergröße. Die wies freilich den gravierenden Makel auf, daß ihr Repräsentant auf der Weltbühne in der kritischen Zeit das Antlitz Stalins trug. Dieses Detail wurde bemerkenswerterweise kaum als störend empfunden, solange die französische Linke neben der Rettung ihres verwundeten Gewissens die Propagierung des eigenen Sieges vorantreiben konnte – als wären die Erfolge der Roten Armee auf das Konto des linken Widerstands umzubuchen gewesen. Hierdurch war man frei, sich pseudo-metanoetisch mit dem Versagen der Dritten Republik, den Infamien der Kollaboration und des französischen Kolonialismus sowie den inneren Widersprüchen der gaullistischen Rekonstruktion auseinanderzusetzen, ohne vom hohen Roß des Sieges herabsteigen zu
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