Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
vorfand, der den Besuch des Denkers nicht wert war. Gleichwohl, aus einer dubiosen Lust an der Selbstunterbietung stellte sich Sartre fast bis zuletzt als Galionsfigur der französischen Pseudo-Metanoia zur Verfügung.
Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß die Namen Camus und Sartre im Zusammenhang dieser Überlegungen eine rein typologische Funktion besitzen und keine Aussagen über deren literarischen und philosophischen Rang implizieren – bei beiden blicken wir auf Höhen, zu denen heute kaum noch ein Autor aufsteigt. Mit dem ersten assoziiere ich die Tendenzen, die für die Rückkehr eines selbstkritisch besonnenen Frankreichs in die Mitte Europas nach dessen postimperialer und postideologischer Beruhigung stehen, während der zweite eher die immer noch virulenten Neigungen zu einem neurotischen Exzeptionalismus und einem messianischen Aggressionsexport bezeichnet.
Ich schließe diese Überlegung mit der Bemerkung, daß die Camussche Position seit einiger Zeit an Gewicht gewinnt, sofern meine Beobachtungen nicht völlig trügen. Die wenigen lebenden Autoren, die, ungeachtet der generellen intellektuellen Mediokrisierung Frankreichs, an die glanzvolle Ära des Landes anzuschließen vermögen, sind in typologischer Sicht überwiegend als Camusianer zu charakterisieren. Naturgemäß standen die politischen Moralisten, die man die Nouveaux Philosophes nannte, dem Camus-Pol näher als dem Sartre-Pol – dies gilt auch für Bernard-Henri Lévy, der mit seinem hastigen Pamphlet Idéologie française von 1981 einen sensitiven, wenn auch wegen polemischer Überspitzungen zu Recht umstrittenen Beitrag zur metanoetischen Literatur geliefert hat. Im Licht der hier angebotenen Analyse erscheint er als ein Camusianer, der sich mit einem Sartrianer verwechselt.
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5 Der erst durch Präsident Sarkozys Ankündigung einer Rückkehr Frankreichs in die NATO kompensiert wird.
8 Deutschland 2007: Der Idiot der europäischen Familie in der Normalisierungsphase – Die Affaire Walser
Bei der Beschreibung der deutschen Lage im Horizont der Daten und Stimmungen von 2007 kann ich mich mit dem Offenkundigen begnügen. Dieses Land ist in eine Phase eingetreten, in der es anfangen darf, die Früchte seiner metanoetischen Anstrengungen zu ernten. Es hat das Vertrauen seiner Nachbarn zurückgewonnen – wenn man von einigen vergifteten Depots in England und Polen absieht, wo sich antideutsche Affekte wie unter Luftabschluß reproduzieren –, und es hat auch dort, wo das Verzeihen jenseits des Menschenmöglichen liegt, einen gewissen Respekt vor seiner Wandlung hervorgerufen. Für diese Sachverhalte gibt es keinen stärkeren Ausdruck als die Wahl eines Deutschen zum Papst. Als das in Rom versammelte Kardinalskollegium am 19. April 2005 Joseph Ratzinger zum neuen Oberhaupt der katholischen Kirche wählte, mag es vor allem seine Besorgnisse um die Kontinuität der katholischen Belange in der Welt zum Ausdruck gebracht haben – das sind nicht unbedingt unsere Sorgen, aber man versteht auch aus einer neutralen Beobachterposition, worum es bei dieser Entscheidung ging. Es setzte zugleich ein Zeichen von überwältigender Deutlichkeit, das besagte: Eine deutsche Herkunft muß kein Grund mehr für Vertrauensentzug sein; ein deutscher Name kann wieder ein Integritätssymbol höchsten Niveaus darstellen. Es steht jedem Kommentator frei, diese Wahl für einen Zufallstreffer oder für die Resultierende rein innerkatholischer Konstellationen zu halten, doch wer sich näher damit befaßt, kommt kaum umhin festzustellen: Diese Wahl hat auch eine außerkatholische Vorgeschichte. Sie wirft indirekt, doch unverkennbar ein Licht auf die sechzigjährige Arbeit der Deutschen an sich selbst. Aus dieser Sicht wäre die Wahl Benedikts XVI ., was immer sie sonst bedeuten mag, die externe Ratifizierung des politisch-moralischen Prozesses, von dessen Anfängen und Motiven weiter oben die Rede war.
Es gehört zu den Besonderheiten des kulturellen Klimas in Deutschland, daß viele Akteure auf dem Feld der veröffentlichten Meinung große Mühe damit haben, sich zu den Möglichkeiten und Wirklichkeiten der neu erarbeiteten deutschen Integrität in ein anerkennendes Verhältnis zu setzen. Sie können und wollen nicht wissen und nicht glauben, daß sich die Nachkriegszeit im alltäglichen wie im anspruchsvollen Sinn des Wortes auch hierzulande ihrem Ende nähert, und zwar aus chronologischen wie aus psychopolitischen und (wenn der Ausdruck erlaubt ist)
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