Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
alltägliche Seite der metanoetischen Arbeit in Deutschland. In deren Verlauf verband sich der Wiederaufbau der Städte mit der politischen und moralischen Reorientierung, und mit beidem kam man einigermaßen trittsicher voran. Was man etwas später das deutsche Wirtschaftswunder nannte, wirkte wie die ökonomische Bestätigung des damals eingeschlagenen Wandlungsweges.
Um die Verlaufskurve dieser Selbstrekonstruktion zu markieren, mag es genügen, an das Stuttgarter Schuldbekenntnis der Evangelischen Christenheit in Deutschland vom 19. Oktober 1945 zu erinnern, mit dem die legitim so zu bezeichnende Geistesgeschichte der späteren BRD neu beginnt. Mittlere Punkte auf dieser Kurve markieren, neben dem Abkommen zwischen Israel und der Bundesrepublik im September 1952, die genannte Szene am 12. Juli 1962 in Reims und der Kniefall Willy Brandts am 7. Dezember 1970 am Ehrenmal des Warschauer Ghettos. Den gegenwartsnahen Eckpunkt dieser Evolution bildet die Inauguration des nach jahrzehntelangen Diskussionen geschaffenen Berliner Denkmals für die ermordeten Juden Europas am 10. Mai 2005. 4
Aus der Sicht der Theorie post-stressorischer Decorum-Revisionen in Nachkriegszeiten ist leicht zu erkennen, daß die genannten Ereignisse auf einer gemeinsamen Linie liegen. Sie sind ein und demselben Prozeß zuzurechnen: der zu keiner Zeit unkomplizierten, aber auch zu keiner Zeit von Umkehrung bedrohten metanoetischen Wandlung der deutschen Kriegsverlierer. Von dieser darf man aus heutiger Sicht mit gutem Grund behaupten, sie habe die zuverlässigste Konstante in der Ideen- und Mentalitätsgeschichte der europäischen Völker nach 1945 gebildet. Nur wenn man den Vorgang im ganzen in den Blick faßt, wird man verstehen, wie es möglich war, daß es in Deutschland zwar eine Wiederbewaffnung, aber keine allgemeine Remilitarisierung der Politik gab, einen sozialen und kulturellen Wiederaufbau, aber keine nennenswerte Nostalgie für antidemokratische Traditionen, eine nationweite Wiederertüchtigung, aber keine Regermanisierung, einen westdeutschen Wirtschaftsaufschwung, aber keine imperiale Versuchung, eine nationale Erholung, aber keine Überhebung.
Niemand wird behaupten, das politische und kulturelle Leben in Deutschland habe während dieser Zeit keine Bewährungsproben zu bestehen gehabt. In der berüchtigten »bleiernen Zeit« – an deren erstickende Atmosphäre nur mit größtem Unbehagen zurückdenkt, wer sie selbst erlebte – herrschte ein allzu langes Schweigen über das Geschehene. Als es endlich gebrochen wurde, schlug das Pendel rasch heftig nach der anderen Seite aus. Darum blühten auch hier Hybridformen des Hasses gegen das »Eigene« auf; auch hier haben empörte Nachgeborene ihr Interesse an schneller Überlegenheit über die Komplikationen in den Lebensgeschichten der Älteren ausgelebt; auch hier kamen wie auf der anderen Seite des Rheins scheinpolitische Meisterdenker obenauf, die den Unterschied zwischen dem totalitären Staat der Vergangenheit und dem demokratischen der Gegenwart als zu vernachlässigende Größe behandelten – so daß man allenthalben Wiedergänger der NS -Zeit erkennen wollte, wo nur ungeübte Demokraten beim Lernen ihrer Rollen zu beobachten waren. Auch hier gab es wie in Frankreich auf dem rechten Flügel abscheuliche leugnende Verhärtungen und auf dem linken selbstgerechte pseudo-metanoetische Exzesse. Es trat sogar ein Remake von linkem Faschismus auf die Bühne, der sich, um von seinem Charakter abzulenken, Antifaschismus nannte und wie sein Vorbild für den bewaffneten Kampf voreingenommen war – weswegen er stilecht leninistisch das Recht beanspruchte, selbsternannte Klassenfeinde einem höheren Ziel zuliebe zu töten.
Diese Ausschläge ins Extreme konnten jedoch die Grundrichtung der deutschen Nachkriegsarbeit an uns selbst nicht entscheidend stören. Die blieb an der Aufgabe orientiert, das überkommene deutsche Decorum mitsamt seinen dunkel-romantischen, heroistischen und ressentimentalen Erblasten im Licht der Kriegsergebnisse, mehr noch im Licht der mitverschuldeten Zivilisationskatastrophe zu reevaluieren und zu revidieren.
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4 Die fünfzehnjährige Auseinandersetzung ist monumental dokumentiert in dem Band Der Denkmalstreit – das Denkmal? Die Debatte um das »Denkmal für die ermordeten Juden in Europa«, herausgegeben von Ute Heimrod, Günter Schlusche, Horst Seferens, Berlin 1999.
7 Frankreich 2007: Die imperiale Versuchung und die Implosion der Linken
Vor dem
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