Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
deutsche Nation zu halten, um ihr zu signalisieren, sie sei, von Selbstbeobachtungen ausgehend, seiner Meinung nach demnächst reif genug, um zu gewissen veräußerlichten pseudo-metanoetischen Ritualen auf Distanz gehen zu können. In diesem Kontext hat die Moralkeulen-Metapher ihren Platz – sie liegt den Keulenherstellern und -benutzern bis heute schwer im Magen, da sie ihre Chancen auf den Moralmärkten deutlich beeinträchtigt. Zehn Jahre nach der Rede in der Paulskirche wissen wir, daß Walser auch in dieser Affaire zu früh recht hatte, und das Publikum von damals, das nach der Rede lange einmütig stehend applaudierte, wußte es in situ ebenso. Mit diesem Applaus war man sich selber ein paar Minuten lang zehn Jahre voraus und gab seine Zustimmung zu der soeben erlebten rhetorisch glanzvollen Antizipation einer möglichen deutschen Normalisierung. 8
Was danach kam, war, um das mindeste zu sagen, eine Phase der Verwirrung. Am verständlichsten war vielleicht die scharfe Reaktion des damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, der aus dem klaren Auftrag seines Amts heraus vor den möglichen Gefahren einer Selbstexkulpation der Deutschen warnte, die sich hinter dem Vorwand der Normalisierung verbergen könnte. Sein bitterböses Wort von der »geistigen Brandstiftung«, das man seit Frisch hierzulande nicht nur auf Biedermänner anwendet, hat er später widerrufen und Walser integre Absichten trotz mancher »mißverständlicher Formulierungen« zugestanden. Die anklagende Übertreibung, zu der Bubis Zuflucht nahm, hatte den Vorzug, daran zu erinnern, daß zwischen Deutschen und Juden auf sehr lange Zeiten keine Normalisierung im Sinne von Vergessen und Vergeben eintreten kann, schon gar keine von deutscher Seite verordnete. Hellhörigkeit gehört zu den moralischen Privilegien und Pflichten derer, die für die Seite der Opfer zu sprechen haben – und etwas überhellhörig mag Bubis im kritischen Augenblick gewesen sein.
Eindeutig bestürzend war hingegen, was auf der deutschen Seite des Tumults um die Walser-Rede zu beobachten war. Wollte man sich in positivem Denken üben, könnte man auf die unter Homöopathen gängige Formel zurückgreifen, die Krise stehe oft im Dienst der Genesung. Am bedenklichsten an der Meinungsorgie, die sich an den Zusammenstoß zwischen Bubis und Walser anschloß, war die starke Entdifferenzierung, durch die das kulturtragende Prinzip, wonach erworbene Verdienste nicht verfallen, vorübergehend außer Kraft gesetzt wurde. Das Prinzip des Skandals ist stets die Enteignung der Wahrnehmung durch die Paraphrase, und seine Vollzugsform ist die Vernichtung des Wortlauts durch das Gerücht. Daß Walser über Jahrzehnte hin einer der fleißigsten Arbeiter im Weinberg der deutschen Metanoia gewesen war, schien bei seinen Anklägern wie über Nacht vergessen. Auch daß er in der Paulskirche in einem rhetorisch nuancierten, subjektiven Modus gesprochen hatte, spielte nun keine Rolle mehr. In einem Rausch des tendenziösen Lesens im Nicht-so-Gesagten und des quälfreudigen Festhaltens am leicht bereinigbaren Mißverständnis warf man ihm vor, er habe Deutschland insgesamt von seinen Erinnerungspflichten losbinden wollen, indessen doch jedem, der hören und lesen konnte, sofort deutlich war, daß der Autor ausschließlich eine bestimmte, stark ritualisierte, um nicht zu sagen mechanisierte Form pseudo-metanoetischer deutscher Schuldlustrhetorik für kontraproduktiv erklärte (was die Angesprochenen naturgemäß zu einer zusätzlichen Probe provozierte). Indem Martin Walser, dem in puncto »Hinsehen« kein Zeitgenosse etwas voraushat, die Erinnerung an den von deutschen Akteuren zu verantwortenden Schrecken wieder nachdrücklicher ins innere Forum der Einzelnen legen wollte, plädierte er für eine Form der Metanoia, die sich dem Geschehenen authentischer zuwendet, als jede noch so gut gemeinte Denkmalpflege es vermöchte. Ob er damit den Ansprüchen der Gedächtnispolitik unter ihren öffentlichen Veranstaltungsformen gerecht wurde, mag offenbleiben (er selbst hat die Berechtigung offizieller Erinnerungsakte und förmlicher Symbole später etwas deutlicher zugestanden) – die Walsersche These jedoch, es könne ohne innere Vergegenwärtigung keine ernsthafte, durchs Gewissen gehende Befassung mit den Schrecken deutscher Verbrechen geben, bildet ein notwendiges Korrektiv gegen die Selbstläufigkeiten der veranstalteten Erinnerung.
Nachdem sich die Wellen etwas
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