Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
geglättet haben, ist zu hoffen, daß die Aktivisten der Anklage, namentlich die nicht-jüdischen, irgendwann ruhig und redlich genug sein werden, einen zweiten Blick auf die Affaire zu werfen. Das deutsche Feuilleton, das damals Schuld auf sich geladen hat, indem es seinen gewöhnlichen skandalsüchtig imitativen Reflexen folgte, täte in der jetzigen Entspannungsphase gut daran, darüber nachzudenken, ob nicht zwischen den Namen Martin Walsers und Benedikts XVI . ein Zusammenhang besteht, der es verdient, explizit gemacht zu werden. In meiner Sicht existiert dieser tatsächlich, und er ist, sobald man ihn aus einem geeigneten Blickwinkel ansieht, transparent genug. Beide Namen stellen nachgewachsene deutsche Integritätssymbole dar, die durch bemerkenswerte Lebensleistungen in der Ära nach 1945 begründet sind. Hinsichtlich ihrer Interessen, Themen und Tendenzen könnten sie nicht divergenter sein. Dennoch stehen sie nebeneinander und miteinander – zusammen mit anderen Namen wie Heuss, Niemöller, Adorno, Dahrendorf, Willy Brandt, Weizsäcker, Grass, Kluge und Enzensberger – für nicht weniger als die Tiefenerholung der deutschen Nachkriegszivilisation. Wenn der Papstname im Lande gegenwärtig heller leuchtet als der Schriftstellername, so unter anderem deswegen, vom astralen Mehrwert der Papstposition abgesehen, weil man sich mancherorts noch immer gegen das Offensichtliche sträubt: Man kann einem Autor von der Balzac analogen Statur Walsers vielleicht für die Dauer einer Krise, aber nicht längerwährend einen Vorwurf daraus machen, daß er zehn oder zwanzig Jahre zu früh auf seine gewiß sehr eigensinnige südwestdeutsche Weise die Wahrheit gesagt hatte – man nehme das Wort Wahrheit hier wie anderswo zu den Bedingungen, die unserem Wissen vom Dasein in Perspektiven entsprechen. 9
Was diese mentalitätsgeschichtlichen Überlegungen für das künftige Verhältnis zwischen Deutschen und Franzosen bedeuten, liegt auf der Hand. Mit der sich vollendenden Wandlung Deutschlands zu einer metanoetisch stark durchgearbeiteten und zivilisatorisch einigermaßen regenerierten Nation sind die Zeiten zu Ende, in denen schon die Wendung »deutsche Interessen« als ein Rückfall in Denkformen der NS -Zeit galt. Wenn es ein halbes Jahrhundert lang im deutschen Interesse lag, so wenig wie möglich Interessen zu zeigen, so kann die Zukunft des Landes nur in einer Rückkehr zu einer gemäßigten Affirmativität liegen. Diese wird im übrigen von den ausländischen Partnern der Deutschen erwartet, weil man sich im Feld der Politik auf den berechenbaren Egoismus jedes einzelnen Mitspielers und Gegenspielers verlassen können will, in der EU wie in der übrigen Welt. Deutschland ist tatsächlich schon seit einer Weile dabei, seine Übergangsrolle als Idiot der europäischen Familie abzulegen und sich zu einem gewöhnlichen politischen Egoisten zu entwickeln. Man tritt niemandem zu nahe, wenn man feststellt, daß es sich hierbei von Frankreich eine Menge abschauen kann.
Es mag nun den Anschein haben, als hätte ich in dieser psychopolitischen Betrachtung die metanoetische Bilanz einseitig zugunsten der deutschen Seite gezogen und Frankreich als Nährboden für zwei massive Lebenslügen getadelt. Ich möchte diesem Eindruck nicht widersprechen, jedoch durch eine zusätzliche Bemerkung für eine ausgeglichenere Evaluierung sorgen. Tatsächlich kehren sich die Pole von Nachkriegswahrheit und Nachkriegslüge zwischen den beiden Ländern um, sobald man an den sensitiven Punkt der deutschen wie der französischen Staatsraison rührt. Ich spreche von der Neudefinition der militärischen Funktionen in beiden Ländern nach den Niederlagen von 1940 bzw. 1945. In diesem Punkt ist festzustellen, daß Frankreich aus seiner Lebenslüge eine Wahrheit gemacht hat, insofern es sich als verteidigungswillige und verteidigungsfähige Nation zu neuer Aufstellung brachte. Deutschland hat aus der Wahrhaftigkeit seiner Metanoia eine Lüge gemacht, da es seine totale Abhängigkeit von der militärischen Schutzfunktion anderer wie eine moralische Leistung vor sich her trägt. Die Deutschen neigen zu der Überzeugung, sie hätten aufgrund ihrer vergangenen Verbrechen einen höheren Anspruch darauf erworben, in einer Welt zu leben, in der es keine Kriege gibt. Hieraus ist ein Syndrom der anmaßenden Schwäche entstanden, das kommenden Prüfungen nicht standhalten kann. So bleibt abzuwarten, ob und wie auch in diesem basalen Segment der Neuregelung des
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